Stille Invasion

Sonnabend, 17. Dezember 2005

stell dir vor ein großer saal stell dir vor auch du wärst da stell dir vor es lacht keiner stell dir vor ich war auch so einer weißt du was ich meine mit doppelkinn und deppen sind nette leute weißt du warum ich so bekleckert bin ich war zwischen oben und unten

Ich bin gefragt worden, wie es sein konnte, daß ein großer Teil unserer Bevölkerung (ich bin nicht gut im Zahlenmerken, es sind, glaube ich, zwischen 1% hauptamtlicher und 10% inoffizieller Stasimitarbeiter) den Rest bespitzelt hat. Warum enttarnte Stasi-Mitarbeiter (jüngst Hagen Boßdorf) immer wieder mit dem gleichen Muster reagieren: nur das zuzugeben, was ihnen auch nachgewiesen werden kann und dadurch das Schaulaufen unnötig in die Länge zu ziehen und immer zu betonen, daß man ja niemandem geschadet habe. Die einzige, die ich kenne (aber bestimmt habe ich was übersehen), die ernsthaft ihre Tätigkeit reflektiert hat, ist Anetta Kahane, aber sie hat auch schon zu DDR-Zeiten mit dem Geheimdienst gebrochen.

gib niemand deine hand man läßt sie nicht los schenk niemand deinen kopf du kriegst ihn nie wieder schau mich an einen arm hab ich bloß griff zur reserve krankheit wird kommen die invasion schleicht sich in mein ohr und baut die front auf gülle galle geifer fremder hasenscharte kommt kommt kommt doch front bricht zusammen

In dem Gespräch wurde unterstellt, daß es in einer totalitären Gesellschaft, in der der Staat wichtiger als das Individuum sei, als Pflicht empfunden wurde, dem Staat zu dienen. Ich halte das für eine Fehleinschätzung. Das was ich in den achtziger Jahren erlebt habe, war eher so eine Laßt-mich-in-Ruhe-Haltung. Eine heute unglaubliche Lethargie, die von kollektiver Verantwortungslosigkeit geprägt war: zwar ständig meckern, aber möglichst nichts tun. Insofern (und jetzt schweifen wir kurz ab, kommen aber gleich wieder zurück) trifft die westliche Beobachtung des seltsam passiven Verhaltens der Ossis durchaus den Kern, verkennt aber, daß es schon mal schlimmer war und daß gerade die jüngere Generation nicht mehr ganz in dieses Schema paßt. Gebt uns noch ein bißchen Zeit, wir müssen noch lernen.

Das Wort Doppelmoral habe ich in diesem Zusammenhang oft gelesen, aber eher so hingenommen, bis mir heute der tatsächliche Bezug zu meinem Erleben klar wurde. Und ich glaube, Amoralität trifft es besser. Für einen Wessi vermutlich sehr schwer zu begreifen, ging es eben nicht darum, zu handeln und für die Konsequenzen dieses Handelns voll verantwortlich zu sein. Es ging eben nicht darum, sich tatsächlich zur Politik dieses Staates zu positionieren. Sondern es gab verschiedene Welten, in denen es vor allem darauf ankam, das zu sagen, was erwartet wurde. In der Schule wurde eben nicht tatsächlicher Glaube (der auch immer mit Zweifel verbunden wäre) gefordert, sondern Konformität. Das ist von heute aus gesehen ganz schwer nachzuvollziehen: Trotz aller Mißstände leben wir heute in einer Gesellschaft, in der Meinung etwas sehr wichtiges ist, in der allen Personen eine Integrität unterstellt wird, die es in der DDR so nicht gab, in der jeder für seine Handlungen und Äußerungen auch verantwortlich gemacht wird. Diese Dimension fehlte in der DDR-Gesellschaft fast völlig.

brutales zwischenfeld liegt unbestellt den zarten gemütern ihre kleine rebellion

Diese Nichtverantwortung führt dann (außer bei moralisch sehr gefestigten Persönlichkeiten) dazu, daß auch die eigenen Handlungen nicht mehr reflektiert wurden, sondern daß der Hauptantrieb eine (aus heutiger Sicht) seltsam unreife Anpassung war. Diese Nicht-Moral scheint dann auch von außen so unbegreifliche Persönlichkeiten wie Sascha Anderson oder Knud Wollenberger1, der jahrelang seine eigene Frau verraten hat, möglich gemacht zu haben.

Mal abgesehen von Fällen, in denen Leute zur Stasi-Mitarbeit erpreßt wurden, reicht die Nicht-Moral schon aus, um zum Verräter zu werden? Moral ist zumindest der Hauptantrieb, es nicht zu werden. Ansonsten winken Anerkennung und die Tatsache, ein Geheimnis zu teilen, ein Moment, das uns schon als Kindern sehr wichtig ist.

es strömt in mich ein es bricht aus mir aus es strömt in mich ein es bricht aus mir aus peinlich oft sprichst du von illusion

Die Nicht-Moral, das Nicht-Reflektieren der eigenen Handlungen kann auch die Reaktionen der enttarnten Spitzel nach der Wende erklären: Niemand hat damit gerechnet, daß er sich verantworten muß. Es gab dafür absolut keine Strategien. Und nicht selten hat ja diese Konfrontation zu Zusammenbrüchen bis hin zum Suizid geführt. (Ja, es wurde auch unterstellt, daß diese Fälle mit der medialen „Hetzjagd“ nach der Wende zu tun hatten. Ich glaube aber, daß die Angst vor ernsthaften Nachfragen von Freunden oder eigenen Kindern und das absolute Fehlen von glaubhaften Antworten schon ausreichen, um eine Persönlichkeit ins Wanken zu bringen).

Im Fall Boßdorf stellt sich nun der WDR-Intendant Fritz Pleitgen hin und sagt „Alle diejenigen, die hier im Westen im Warmen gesessen haben, sollten sehr vorsichtig sein mit tapferen Verurteilungen.“

Wenn dieser Satz so gemeint gewesen sein sollte, daß die DDR-Gesellschaft aus westlicher Sicht schwer verständlich ist, kann ich ihn unterschreiben. In dreierlei Hinsicht ist das, was Pleitgen da sagt, allerdings sehr bedenklich:

  • Der NDR hat ja schon implizit zu der Sache Stellung genommen, als er ihn trotz seiner Stasi-Kontakte eingestellt hat. MDR und RBB hatten Boßdorf zuvor abgelehnt.
  • Es gibt, und das war 1990 vom Westen politisch so gewollt, keine originäre ostdeutsche Stimme in der Presse mehr. Das bedeutet, daß diese Debatte entweder in den westdeutsch geprägten gesamtdeutschen Medien geführt wird, oder aber sie wird gar nicht geführt.
  • Pleitgens Satz impliziert, daß es ein Akt des Widerstandes war, nicht bei der Stasi mitzuarbeiten. Das stimmt in den meisten Fällen nicht. Ja, es gab auch Erpressungen. Und wenn der Fall Boßdorf ein solcher ist, dann muß man darüber sprechen. Im allgemeinen hatte es jedoch, soweit ich weiß2, keine negativen Konsequenzen, eine inoffizielle Stasi-Mitarbeit abzulehnen.

schleichend werden wir privater schleichend in jedem ohr schleichend bleibt was hängen schleichend verloren es zieht mich von oben ich halt mich unten fest zwanzig panzer zwanzig pferde auf jeder seite ich suche ein beil ich finde ein beil und ich hacke mir den oberen arm ab gerettet

[Sandow: Stille Invasion]

1Wieso hieß dessen Deckname ausgerechnet IM Donald? War da jemand TeX-Fan?
2Zumindest kenne ich persönlich Menschen, die das getan haben, ohne daß ihnen dadurch etwas geschehen wäre.

4 Responses to “Stille Invasion”

  1. Felix says:

    “Am Ende von Mielkes über dreißigjähriger Amtszeit [Erich Mielke, Leiter des MfS von 1957-89, d.Verf.] hatte das MfS mit 91 000 hauptamtlichen Mitarbeitern Armeestärke erreicht. Statistisch kam damit ein MfS-Mitarbeiter auf 180 DDR-Bürger, womit man nicht nur Polen (1:1574), sondern auch die Sowjetunion (1:595) weit hinter sich ließ (…) Zum MfS gehörten darüber hinaus 180 000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM), die die DDR als geheime Informanten praktisch flächendeckend überwachten.” [Zitat aus dem soeben erschienen Band “Der verbotene Stadtteil. Stasi-Sperrbezirk Berlin-Hohenschönhausen” von Peter Erler/Hubertus Knabe, Jaron Verlag Berlin 2005] – Im Januar 1990 hatte die DDR etwa 16,35 Millionen Einwohner.

  2. stralau says:

    Danke. Super Leserservice, das gefällt mir. Das sind dann also 0.5 % hauptamtliche und 1% der DDR-Bevölkerung als inoffizielle Mitarbeiter.

  3. Katharina says:

    Frau Anetta Kahane hat während ihrer Tätigkeit bei der Stasi fast ein Jahrzehnt das Leben und Lebenswerk sehr vieler Menschen vernichtet. Wie glaubwürdig ist so eine Person? Das frage ich euch dort draußen. Muss man vergeben können? Ich denke ja. Aber warum vergibt Frau Anetta Kahane nicht? Warum verhält sie sich ostdeutschen Mitbürgern gegenüber so rassistisch? Weil es eine Kollektivschuld gibt? Weil ihre Stasi-Chefs auch Ostdeutsche und irgendwann nicht mehr mit ihrer Arbeit zufrieden waren? Das wäre eine Erklärung! Gekränkte Eitelkeit. Ein ganz schlechter Charakterzug. Schämen Sie sich, Frau Kahane. Ihre Opfer werden nie vergessen, was sie ihnen angetan haben – Folter wäre noch Erholung dagegen. Sie haben unser LEBEN zerstört und es kotzt uns an, Sie als angeblichen Engel in den Medien hören und sehen zu müssen.

    • stralau says:

      Ich kann nicht beurteilen, ob das, was Frau Kahane sagt, stimmt, oder auch nur ob es vollständig ist. Insofern sind andere Meinungen und Ergänzungen hier gerne willkommen.

      Was allerdings seltsam ist, daß Du hier einen Nebenaspekt aus meinem Text herausgreifst und mit einem Standardtext beantwortest, der im gleichen Wortlaut aber unter anderem Namen auch schon an anderen Stellen gepostet wurde.

      Insofern sollte ich Deine haltlosen Anschuldigungen wohl einfach löschen, zumal Du eine ungültige E-Mail-Adresse verwendest. Ich lasse sie hier aber stehen, für den Fall, daß nochmal jemand anderes darüber stolpert.

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