Der Schießbefehl: Aktenspuren

Dienstag, 14. August 2007

Aber interessant, daß der jetzt gefundene Schießbefehl an die Stasi-Mitarbeiter bei den Grenztruppen für so viel Aufsehen sorgt. Denn man sollte meinen, daß Wehrpflichtige nicht ohne Befehl auf Flüchtlinge, auch auf Kinder, schießen würden. Tatsächlich gab es aus Sicht der Grenzsoldaten ein System aus Druck und Belohnung. Das bedingungslose Schießen wurde aber natürlich von ganz oben geplant, auch wenn Egon Krenz in der Bild-Zeitung Haarspaltereien betreibt. Daß das Schießen an der Mauer zum System gehörte, ist in einer ganzen Reihe von Dokumenten niedergelegt:

Das jetzt wiedergefundene Dokument ist in gleichlautender Fassung (wenn auch aus einer anderen Akte) schon 1997 veröffentlicht worden. Im gleichen von allen übersehenen Band, Helmut Müller-Enbergs: Garanten innerer und äußerer Sicherheit, in: Matthias Judt (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Ch.-Links-Verlag 1997, finden sich noch die folgenden zwei Belege:

In der Aussprache […] legte der Genosse Erich Honecker folgende Gesichtspunkte dar:

  • die Unverletzlichkeit der Grenzen der DDR bleibt nach wie vor eine wichtige politische Frage,
  • es müssen nach Möglichkeit alle Provokationen an der Staatsgrenze verhindert werden,
  • es muß angestrebt werden, daß Grenzdurchbrüche überhaupt nicht zugelassen werden,
  • jeder Grenzdurchbruch bringt Schaden für die DDR,
  • die Grenzsicherungsanlagen müssen so angelegt werden, daß sie dem Ansehen der DDR nicht schaden, […]
  • überall muß ein einwandfreies Schußfeld gewährleistet werden
  • nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schußwaffe angewandt haben, zu belobigen, […]

[Erich Honecker auf der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974 zum Tagesordnungspunkt 4: Bericht über die Lage an der Staatsgrenze der DDR zur BRD, zu Westberlin und an der Seegrenze. In: BArch MZA, VA–01/39 503.]

„Angriffe“ auf die Staatsgrenze (II)
28. April 1989

Ich will überhaupt mal was sagen, Genossen. Wenn man schon schießt, dann muß man es eben so machen, daß nicht noch der Betreffende wegkommt, sondern dann muß er eben da bleiben bei uns. Was ist das denn für eine Sache, was ist denn das, 70 Schuß loszuballern, und der rennt nach drüben, und die machen eine Riesenkampagne. Da haben sie recht. Mensch, wenn einer so mies schießt, sollen sie eine Kampagne machen.

[Erich Mielke: Referat auf der Zentralen Dienstbesprechung des MfS am 28. April 1989 (Tonbandabschrift). In: BStU, ZA, ZAIG TB 3]

Nach dem Bau der Mauer, läutete Ulbricht die zweite Stufe der Grenzsicherung ein. Spuren finden sich zum Beispiel in folgendem

Befehl 101/62 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 23. November 1962

Im Zusammenhang mit der Forderung nach besserer Schießausbildung der Soldaten heißt es, die Grenzsoldaten müßten imstande sein, „(…) jedes unbewegliche und sich bewegende Ziel mit dem ersten Schuß (Feuerstoß) bei Tag und Nacht zu vernichten.“

[zit. nach Thomas Koch, Flemming Hagen: Die Berliner Mauer: Grenze durch eine Stadt, Bebra-Verlag 2006]

Eine Auffrischung aus dem Jahre 1975:

Befehl 80/75 von Erich Peter, Chef der Grenztruppen: „Alle Grenzverletzer, Provokateure und Diversanten (…) [seien] unter geschickter Ausnutzung aller gegebener Möglichkeiten entschlossen” festzunehmen oder zu vernichten.. Die Schußwaffe solle „mit hohem politischen Verantwortungsbewußtsein (…) treffsicher angewandt” werden.

[zit. nach Dietmar Schultke: Die Grenze, die uns teilte: Zeitzeugenberichte zur innerdeutschen Grenze, Köster 2005]

Das sind Schießbefehle. Auch wenn es keinen schriftlichen Befehl direkt an die einzelnen Soldaten gegeben haben sollte, gibt es doch die Berichte der Grenzsoldaten von der täglich stattfindenden mündlichen Vergatterung, die auf viele wie ein Befehl wirkte:

Der Kernsatz der (…) Vergatterung lautete: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten.“ Bei der Schulung der Grenzsoldaten galt als Faustregel: „Besser ein Flüchtling ist tot, als daß seine Flucht gelingt.“ Das Interesse, eine Flucht zu verhindern, hatte Vorrang vor dem Leben des Flüchtlings. Eine gelungene Flucht war „das Schlimmste, was der Kompanie passieren konnte, da sie der ihr gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden war.“ Dagegen hatte die Erschießung des Flüchtlings keine negativen Konsequenzen.

[Jürgen Weber/Michael Piazolo (Hg.): Eine Diktatur vor Gericht. Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz, 1995, zit. nach: Barbara Zibler: Kinder als Opfer der Mauer, in: Falk Blask (Hg.): Geteilte Nachbarschaft. Erkundungen im ehemaligen Grenzgebiet Treptow und Neukölln, 1999.]

Andererseits ist im Grenzgesetz von 1982 nur die Rede davon, daß die Schußwaffe eingesetzt werden darf, nicht muß:

§27 Anwendung von Schußwaffen

(1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird.

(4) […] Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden.

[Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25. März 1982. In: GBl. I, Nr. 11 vom 29. März 1982]

Es heißt, daß Wehrpflichtige den Dienst an der Grenze verweigern konnten, zwar nicht ohne Konsequenzen, aber ohne ins Gefängnis zu müssen. Über den Mut und die Konflikte bei solchen Gewissensentscheidungen schreibt Ingo Schulze heute in der Süddeutschen Zeitung. F.H. von Donnersmarck schreibt sehr gut über Ulrich Mühes Konflikte an der Grenze in der FAZ vom Sonnabend. Aber die Klopper von der FAZ schaffen es tatsächlich, einen Anriß im Internet zu veröffentlichen, mit dem Hinweis, daß man den ganzen Artikel in der gedruckten Ausgabe lesen solle. Mann, Mann, Mann.

Zurück zum (nicht vorhandenen?) Schießbefehl. Immerhin wird die Aussetzung des Schießbefehls im April 1989 in Anatomie der Staatsicherheit, Geschichte, Struktur, Methoden, Hauptabteilung 13: NVA und Grenztruppen von Stephan Wolf erwähnt. Den eigentlichen Text hierzu, einen Artikel von Roman Grafe in der Süddeutschen Zeitung von 1996, konnte ich aber noch nicht lesen.

6 Responses to “Der Schießbefehl: Aktenspuren”

  1. Punkr says:

    Tja, da war die DDR wohl nicht so nett, wie sie sich dargestellt hat.

    • stralau says:

      Die DDR war bei der Selbstdarstellung ja in einer vertrackten Situation: Einerseits wurde in der Schule und in den Zeitungen vom antifaschistischen Schutzwall erzählt, der uns vor dem Westen schützt, andererseits sollten die DDR-Bürger ja wissen, daß bei Fluchtversuchen geschossen wird.

      Das Leugnen nach der Wende hingegen ist wohl Schutzreaktion.

  2. […] Mehr Gedanken übrigens drübigens im Stralau-Blog. […]

  3. […] und glaubwürdig: Knast in der DDR. Gefunden immer noch bei Stralau. Wenn mich jemand auf eine ähnliche Beschreibung für Gefängnisse in der […]

  4. ozean says:

    Und hier noch mal eine kleine Perspektivergänzung. In der Le Monde Diplomatique vom Juli gab es mal wieder wunderbare Karten samt kleinen, feinen Texten von Philippe Rekacewicz – auch heute noch sterben viele Menschen auch an Grenzen…
    Über Grenzen (PDF, 4,8 MB)

    • stralau says:

      Oh, wirklich schön gemacht! Aber wirklich schlimme Sache das.

      Zur europäischen Abschottung und Frontex gab es ja auch schon das European-Border-Watch-Projekt im Mauerwachturm Schlesischer Busch. Die haben damals geschrieben: „Gerade in Deutschland erhoffen wir uns aufgrund der jahrzehntelangen Erfahrung in der Grenzüberwachung eine rege Nachfrage und Freiwillige mit speziellem Knowhow.“

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