Notizen von der Küste

Mittwoch, 31. August 2005

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An der Küste zerstörten die Arbeiter das Klischee vom primitiven Arbeiter, das in den offiziellen Kabinetten und elitären Salons grassierte. Der Malocher diskutiert nicht — er erfüllt den Plan. Wenn der Malocher den Mund aufmacht, soll er dies nur tun, um zuzustimmen und etwas zu bestätigen. Den Malocher interessiert nur eines: wieviel er verdient. Wenn er den Betrieb verläßt, trägt er in seinen Taschen Schrauben, Kabel und Werkzeug hinaus. Wenn nicht die Direktion wäre, würden die Malocher den ganzen Betrieb ausräumen. Dann lungern sie vor dem Kiosk mit Bier herum. Dann legen sie sich schlafen. Wenn sie am Morgen mit dem Zug zur Arbeit fahren, spielen sie Karten. Gleich nachdem sie den Betrieb betreten, stellen sie sich in der Schlange zum Betriebsarzt an und lassen sich krankschreiben. Auf allen wichtigen Beratungen wird viel gestöhnt, wenn dieses Thema zur Sprache kommt.

An der Ostseeküste und dann im ganzen Land hingegen tauchte jetzt aus diesem Dunst zufriedener Selbstberuhigung das junge Gesicht einer neuen Generation von Arbeitern auf: denkend, intelligent, sich ihres Platzes in der Gesellschaft bewußt und — was am wichtigsten ist — entschlossen, alle Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, daß, gemäß der idellen Grundlage des Systems, ihrer Klasse die führende Rolle in der Gesellschaft zukommt. So weit ich zurückdenken kann, geschah es in jenen Augusttagen zum ersten Mal, daß sich diese Überzeugung, diese Selbstsicherheit und der unbeugsame Wille mit solcher Macht bemerkbar machten. Durch unser Land begann eine Kraft zu fließen, die Landschaften und Klima verändern wird.

Ich weiß nicht, ob wir alle uns überhaupt bewußt sind, daß wir seit jenem Sommer 1980, egal, was noch geschehen mag, in einem anderen Polen leben. Diese Andersartigkeit beruht meiner Ansicht nach darin, daß die Arbeiter begannen, in den wichtigsten Anliegen mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen. Und daß sie entschlossen sind, sich auch weiterhin zu Wort zu melden. Es ist undenkbar, daß das jemand nicht begreift.

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An der Ostseeküste wurde eine Schlacht um die Sprache geschlagen, um unsere polnische Sprache, um ihre Reinheit und Klarheit, darum, den Worten ihren eindeutigen Sinn wiederzugeben, unsere Sprache von Phrasen und Worthülsen zu säubern, sie von einer ihr anhaftenden Krankheit zu befreien — der Krankheit der vagen Andeutung.

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„Wir ordnen unsere Angelegenheiten.“ Wichtig war auch, wie sie diese ordneten. In ihrem Handeln gab es keine Elemente der Rache, keinen Wunsch, sich zu bereichern, und keinen einzigen Versuch auf irgendeiner Ebene, persönliche Angelegenheiten auszutragen. Wenn man sie nach dieser Haltung fragte, antworteten sie: „Diese Dinge sind nicht wichtig“, und außerdem wäre das „unehrenhaft“. In diesen Augusttagen wurden viele Worte mit neuem Leben erfüllt, sie erhielten neues Gewicht, neuen Glanz. So zum Beispiel das Wort „Ehre“, das Wort „Würde“, das Wort „Gerechtigkeit“.

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[aus: Ryszard Kapuścinski: „Notizen von der Küste“, in: R.K.: „Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“, Eichborn 2000, via FAZ]

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