Sur-Real

Sonnabend, 19. November 2005

Tata! Es gibt mal wieder einen Gastautoren: Felix war einkaufen. Danke für den Text!

Sur-Real

Real: Die Kassiererin zieht die Waren des Kunden vor mir über den Scanner, stoppt und hält einen Artikel in die Höhe. Der fragende Ruf ist an die Verkäuferin in der Nachbarkabine gerichtet. Vertraute Supermarkt-Dramaturgie. Eine dritte Kassiererin schaltet sich ein, noch bevor die Angerufene zu Wort kommt: „Den gibt’s umsonst.“ Für knappe zwei Sekunden ist der Fluß gestoppt, hängt die Ware in der Luft. Dann hat die Kassiererin den Witz begriffen, auch der wartende Kunde beginnt zu grinsen. Für einen kurzen Moment die Gesetze des Marktes außer Kraft setzen und einen Artikel zu verschenken anstatt ihn zu verkaufen — welche Möglichkeit.

Es muß der belastenden Tätigkeit geschuldet sein, dem Zustand eintöniger, ohne Zeitverlust auszuführender Handlungen im Bewusstsein direkter und permanenter Beobachtung durch die Schlange der wartenden Kunden hinter der Kasse, der bei den Kassiererinnen zu diesem seltsamen Blick führt. Achten Sie mal drauf! Da werden die Waren im Takt über den Scanner geschleift, auch Unregelmäßigkeiten wie vergessene Etiketten auf Gemüsetüten werden in Blitzeseile bearbeitet, und dann hält man als konditionierter Kunde den Geldschein hin — und er wird nicht entgegengenommen. Er wird nicht bemerkt. Den Kopf in den Verkaufsraum gewendet, der Blick blicklos. Erschöpfung, Melancholie, Leere. Drei Sekunden Pause pro Kunde. Drei Sekunden Gleichgültigkeit gegenüber dem Geld.

Real, vor einem Jahr: Mal wieder wartend an der Kasse. Das akustische Werbeprogramm wird von ein paar Takten klassischer Musik unterbrochen. Die darauffolgende Ansage verpasse ich und registriere erst danach, daß alle Kassen stehen. Jetzt bin ich gespannt. Der Grund ist meistens ein Kassierfehler und die betroffene Kassiererin ist gezwungen, auf die Vorgesetzte mit dem Kassenschlüssel zu warten. Wie wird sie reagieren, wenn nun alle Kassen gleichzeitig auf sie warten — und mit ihnen die Kunden? Aber niemand kommt. Der Kunde vor mir hält seinen Geldschein der Kassiererin hin, aber sie nimmt ihn nicht entgegen und so schwebt er eine Weile lang fragend in der Luft. Mein Gehirn rekonstruiert währenddessen die Lautsprecheransage. Tsunamiopfer, Gedenken. Ich ahne, was hier los ist und im ersten Moment bin ich etwas entsetzt. Eine Gedenkminute bei Real? Ich will hier nur einkaufen und danach nichts wie raus. Aber dann genieße ich diesen langen seltsamen Moment. Alle stehen da und wissen nicht, was mit sich anfangen in dieser aufgezwungenen Pause. Nur die Kassiererinnen halten sich ganz meisterhaft und blicken geradeaus — konzentriert und freundlich. Als hätten sie vorher eine Schulung erhalten. Sur-Real.

(© Felix)

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