Montag, 21. November 2005

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Die Sprache ist ein Kunstwerk und soll als ein solches, also objektiv genommen werden, und demgemäß soll alles in ihr Ausgedrückte regelrecht und seiner Absicht entsprechend sein, und in jedem Satz muß das, was er besagen soll, wirklich nachzuweisen sein, als objektiv darin liegend: nicht aber soll man die Sprache bloß subjektiv nehmen und sich notdürftig ausdrücken, in der Hoffnung, der andere werde wohl erraten, was man meine; wie es die machen, welche den Casum gar nicht bezeichnen, alle Präterita durch das Imperfekt ausdrücken, die Präfixa weglassen, usw. Welch ein Abstand ist doch zwischen denen, die einst die Tempora und Modi der Verba und die Casus der Substantiva und Adjektiva erfunden und gesondert haben – und jenen Elenden, die dies alles zum Fenster hinauswerfen möchten, um, sich so ungefähr ausdrückend, einen ihnen angemessenen Hottentottenjargon übrigzubehalten! Es sind die feilen Tintenkleckser der jetzigen an allem Geist bankrotten Literaturperiode.

Die Sprachverhunzung, von Zeitungsschreibern ausgehend, findet bei den Gelehrten in Literaturzeitungen und Büchern gehorsame und bewundernde Nachfolge, statt daß sie wenigstens durch ihr entgegengesetztes Beispiel, also durch Beibehaltung des guten und echten Deutsch der Sache zu steuern suchen sollten: aber dies tut keiner, keinen einzigen sehe ich dagegen stemmen; kein einziger kommt der vom niedrigsten literarischen Pöbel mißhandelten Sprache zu Hilfe. Nein, sie folgen wie die Schafe und folgen den Eseln. Das kommt daher, daß keine Nation so wenig wie die Deutschen geneigt ist, selbst zu urteilen (to judge for themselves) und danach zu verurteilen, wozu das Leben und die Literatur stündlich Anlaß bietet. (Vielmehr vermeinen sie, durch eilige Nachahmung jeder hirnlosesten Sprachverhunzung zu zeigen, daß sie „auf der Höhe der Zeit stehn“, nicht zurückgeblieben, sondern Schriftsteller nach dem neuesten Schnitt sind.) Sie sind ohne Galle wie die Tauben: aber wer ohne Galle ist, ist ohne Verstand; dieser gebiert schon eine gewisse acrimonia, die im Leben, in der Kunst und Literatur notwendig tagtäglich den innerlichen Tadel und Hohn über tausend Dinge hervorruft, welcher eben uns abhält, sie nachzumachen.

[Schopenhauer: „Über Schriftstellerei und Stil“]

[Abt. Krank im Bett macht Lust auf Grimmiges]

6 Responses to “…”

  1. ozean says:

    Na, da fühle ich mich dann doch genötigt zweigleisig zu kommentieren:

    Erstmal, das Spiel mitmachend:

    Der Literaturkritiker ist notwendigerweise ein strenger Leser. Wenn man einen Komplex, den der übermäßige Gebrauch so entwertet hat, daß er in den Wortschatz der Staatsmänner übergegangen ist, einmal wie einen Handschuhfinger umstülpen darf, so könnte man sagen, der Literaturkritiker und der Professor der Literaturwissenschaft, diese stets Wissenden, stets Urteilenden, legen gern einen “Überwertigkeitskomplex” an den Tag. Wir aber, die wir uns dem Glück der Lektüre hingeben, wir lesen und lesen wieder, nur was uns gefällt, mit einem kleinen Leserstolz und viel Begeisterung.
    [Gaston Bachelard in Poetik des Raumes

    Aber aus gleichsam professioneller Perspektive möchte ich rufen: Bourdieu! Bourdieu!

  2. stralau says:

    Können Sie uns Ungebildeten erklären, was hinter Ihrem Ausruf steckt?

  3. ozean says:

    Wie? Andere Menschen sind keine Soziologen? ;)

    Eines der Felder, auf denen nach Pierre Bourdieu Distinktion ausgehandelt wird, ist die Sprache. In diesem Feld finden Abgrenzungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen oder Akteuren statt – je nach Herkunft, Bildung, ökonomischem Kapital usw. heben Leute bestimmte Aspekte an der Sprache hervor und finden andere weniger wichtig, eben um sich von anderen zu unterscheiden.

    Eine der Regeln die hier wirksam ist, besagt, dass eben die Fertigkeiten oder Besitztümer hervorgehoben werden, die die eigene Klassen- oder Schichtposition auszeichnen. Ein grobes Raster Spracheumgang-Klassenlage wäre beispielsweise durch die Kennzeichnung von Einfachheit—Elaboriertheit—Korrektheit—Beherrschung—freies Spiel/ Genuß gegeben (die Sachen hab ich mir jetzt aus den Fingern gesogen, weiß nicht, ob Bourdieu da auch diese Begriffe verwendet und ob die eigentlich besonders schlau gewählt sind).

  4. ozean says:

    Ach ja, das großartige, fabelhafte, erhellende und unterhaltsame Buch in dem Bourdieu die Welt über diese Dinge aufklärt (mit Abbildungen, Beispielen, Interviewauszügen und allem Drum und Dran) heisst: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.. Wenn ich ein Buch der Soziologie der letzten 40 Jahre empfehlen kann, dann dieses. Ist allerdings dick und zuweilen doch auch ein bisschen sperrig zu lesen. Aber dann kann man ja einfach weiterblättern…

  5. stralau says:

    Danke für die Erklärung!

    Allerdings habe ich nicht das Gefühl, daß Schopenhauer hier auf Distinktion aus ist. Er kritisiert ja gerade Zeitungsschreiber und Literaten, Leute also, die das Schreiben gelernt haben müßten. Und ich denke, es gibt mehr Motive, sich um gute Sprache zu bemühen, als nur der Unterschied zu denen, die’s nicht können.

    Mir fällt da auch noch Luther ein: Sprachmächtig, gerade weil dem Volk aufs Maul geschaut.

  6. ozean says:

    In der Tat – die Sache mit der Disktintion schwingt immer mit, ist aber sicher keine allein hinreichende Erklärung.

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