Gebt mir ein Leitbild

Sonnabend, 29. April 2006

Nachdem ich mich auf der anderen Seite des Flusses ziemlich aus dem Fenster gelehnt habe, ein paar Dinge, die anscheinend nicht selbstverständlich sind, die ich aber von einer etwas emotionsfreieren Diskussion erwarten würde:

  • Nicht Kirche und Glauben verwechseln: Wenn Kirchenkritik dazu führt, daß vorurteilsbelastet bestimmte Weltanschauungen kritisiert werden, führt das zu Ratlosigkeit: was soll man darauf antworten? Vor allem dann unangenehm, wenn man selbst mit bestimmten Handlungen der Amtskirche nicht einverstanden ist. Diese haben aber nichts mit dem Glauben und den persönlichen Ansichten des Einzelnen zu tun.
  • Kirchenkritik sachlicher und genauer formulieren, nur dann hat man Chance, gehört zu werden: der Papst und die Kondome — ich kann es wirklich nicht mehr hören. Mal davon abgesehen, daß es vermutlich interessant wäre, sich mit den aktuellen Äußerungen Benedikts zur Liebe en detail zu befassen (habe ich aber auch nicht gemacht), ist für einen großen Teil der Christen in Deutschland der Papst ziemlich irrelevant.
    Was mich persönlich an den deutschen Kirchen in den letzten 15 Jahren am meisten gestört hat: die Übernahme des westdeutschen Modells der Militärseelsorge in den ostdeutschen evangelischen Kirchen nach der Wende sowie viel zu wenig Engagement gegen die Asylrechtsänderung 1994.
  • Sich überlegen, aus welcher Motivation heraus man Kirche kritisiert: Klar finde ich es schade, daß sich die deutsche katholische Kirche nach Druck aus Rom aus der Schwangerenberatung zurückgezogen hat. Als Nichtkatholik bleibt mir aber nicht viel übrig, als das schade zu finden. Sich ändern muß die Kirche schon selbst.
    Und gerade unter Katholiken kenne ich einige, die sehr unter der Politik ihrer Kirche leiden. Die sich erst engagieren und dann doch resignieren und austreten. Nur werden wir von außen diesen Kampf nicht führen könenn, die Veränderung muß von innen kommen.
  • Der Staat und die Weltanschauungen: Deutschland ist weltanschaulich neutral. Deswegen sollte man genau hinkucken, was passiert, wenn nur die christlichen Kirchen in die Bildungsdebatte einbezogen werden. Neutral heißt aber nicht atheistisch — auch Atheismus ist eine Weltanschauung unter vielen.
  • Die Wissenschaft: ist völlig ungeeignet, Glaubensdebatten zu führen. Es heißt ja schon Glaube und nicht Wissen. Das ist doch eigentlich schon lange durch, scheint aber noch nicht überall angekommen zu sein. Auch Kant (der ja immer wieder erwähnt wird) taugt nicht als Zeuge für Areligiösität.
  • Die öffentliche Diskussion über Glauben: ich glaube nicht, daß das funktioniert. Glaube ist tatsächlich Privatsache. Das heißt, daß man von jemandem, der von sich sagt, er sei Muslim, Atheist, Christ oder Jude, kaum etwas weiß. Man kann mehr erfahren, wenn man sich dafür interessiert. Das funktioniert vielleicht in einem Privatgespräch, in dem beide Seiten wirklich offen sind für den anderen. In den Kommentarkellern von Weblogs hingegen kann man Erkenntnisgewinn wahrscheinlich vergessen.
  • Und dann noch die Selbstverständlichkeiten in der Argumentation: versuchen, den anderen zu verstehen, nicht, ihn zu überzeugen (Mission ist mir eh ziemlich abhold). Die stärksten Argumente des anderen prüfen, nicht die schwächsten herauspicken. Etc.

Und dann können wir vielleicht wieder über die wirklich wichtigen Dinge reden.

5 Responses to “Gebt mir ein Leitbild”

  1. kornecke says:

    Danke dafür. Bleibt nur zu hoffen, dass möglichst viele Spreeblicker für diesen (wunderbar sachlichen) Kommentar eine Minute erübrigen können…

  2. […] Zuletzt bspw. hier und dort. Wie angenehm ist es dann, ein solches Statement beim Stralauer zu lesen. Es sei eh empfohlen, der Stralauer. […]

  3. matze says:

    Ich habe eine Minute erübrigt und kann mich nur bedanken.

  4. darkrond says:

    weltschauliche neutralität? schön wär’s. aber ich will doch ein paar einwände gegen diese behauptung geltend machen:

    1. wenn deutschland wirklich weltanschaulich neutral wäre, wäre (christliche) religion nicht in fast allen bundesländern ordentliches lehrfach, bei dem die christlichen kirchen lehrpersonal und -inhalte stellen, der staat sich aber raushält.
    2. ebenso wenig würde der staat den kirchen eine kirchensteuer einziehen, weil jede andere religionsgemeinschaft ihre mitgliederbeiträge ja auch selbst bei ihren schäfchen einziehen muss.
    3. weiterhin müssten die vertreter der beiden großen christlichen kirchen ihre mandate in den öffentlich-rechtlichen rundfunkräten entzogen werden (oder alle weltanschaulichen gruppen einen solchen bekommen).
    4. außerdem schreibt z.b. die baden-württembergische landesverfassung vor, dass lehrer an schulen dieses bundeslandes “im geiste christlicher nächstenliebe” und “in ehrfurcht vor gott” zu erziehen haben.

    wenn all diese verquickungen von staat und kirche aufgelöst werden, erst dann kann man tatsächlich von einer weltanschaulichen neutralität des staates in deutschland sprechen.

    • stralau says:

      Stimmt sicher alles. Aber „Der Staat ist weltanschaulich neutral“ war ja auch keine Tatsachenbehauptung von mir. Sondern das steht so sinngemäß im Grundgesetz.

      Zum Religionsunterricht: weltanschaulich neutral heißt, wie gesagt, nicht areligiös. Das wird in der Tat recht unterschiedlich gehandhabt, ist aber theoretisch nicht auf christliche Kirchen beschränkt: es gibt islamischen und jüdischen Religionsunterricht. Selbst die Freidenker bieten das an, da heißt es dann Lebenskunde.

      Kirchensteuer: Verstehe ich auch nicht, warum die Kirchen das nicht lieber selbst in die Hand nehmen. Ist aber auch nicht auf christliche Kirchen beschränkt: alle Religionsgemeinschaften, die Körperschaften öffentlichen Rechts sind, dürften Kirchensteuern einziehen. Auch das würde ich als Neutralität betrachten.

      Rundfunkräte: da sind ja nun wirklich von Gewerkschaften über Schriftstellerverband bis zum Landessportbund Hinz und Kunz vertreten — vielleicht sollte man die lieber ganz abschaffen.

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