Lifestyle-Politik: Schuld bin ick und du

Sonnabend, 8. Juli 2006
₰
Pfennigsymbol

Boxhagen, Gaststätte Humanus. Seit ungefähr 10 Jahren halbe Preise auf alles. Ein junger Mann, Typ Urbaner Penner, läßt sein Essen (Tagliatelle mit grünem Pfeffer, Preis 2,75 €) mehrfach zurückgehen. Der Kellner mit arabischem Akzent erträgt es freundlich gelassen. Am Ende gibt es mit gönnerhaftem Blick 25  Trinkgeld.

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Der Berliner Händler alter Schule stand im Ruf der Ruppigkeit. Ich vermute hier ein Mißverständnis, da der Berliner selbst das nicht so empfand. Hinter einer neutralen Fassade verbarg sich häufig ein skeptischer, wacher Mensch, der sein Gegenüber nicht umarmte, beiden aber gleichzeitig die Möglichkeit gab, Distanz zu wahren.

In den Jahren nach der Wende rückte diese Stadt wieder mehr in das Licht der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Und so kamen sie von überall her und suchten Freundlichkeit in der ihnen fremden, etwas sonderbaren Stadt.

Doch weder fanden sie die vertrauensvolle Liebenswürdigkeit der Kleinstadtgeschäfte, noch die professionell-herablassende Haltung von Hamburger oder Pariser Bekleidungsfachverkäufern. Stattdessen — ja, eine gewisse Wurschtigkeit, aber vor allem Offenheit und Distanz.

In den letzten Jahren muß es eine starke Verschlechterung der ökonomischen Lage im Berliner Handel gegeben haben. Auch ohne Statistiken zu lesen kann man die Anzeichen sehen: Geschäftsaufgaben, Besitzerwechsel, Backshops statt Bäcker, Verkäufer, die häufig am Rande der Erschöpfung stehen.

Damit einhergehend ein Wandel der Umgangsformen: Furchtbare Floskeln aus dem Seminar „Erfolgreich Verkaufen durch gute Kundenbindung“. Verständlich zwar, daß man jeden Weg, der einen Ausweg aus der Krise verspricht, auch versucht zu gehen.

Dennoch ist es oft so deprimierend: wenn man von Händlern oder Kellnern beim dritten Besuch unterwürfig gefragt wird, ob es einem gutginge und man selbst sich auf die Zunge beißen muß, um nicht zurückzufragen, obs denn überhaupt noch ginge.

Und das gefrorene Lächeln und auswendiggelernte Satzfetzen, denen man anhört, daß der Chef sie regelmäßig kontrollieren läßt.

Manchmal, selten, kommt das alte distanzierte Selbstbewußtsein wieder hervor: wenn man dann im Berliner Ton antwortet, auf den ersten Blick etwas muffelig, aber durchaus nicht unfreundlich gemeint.

Häufig jedoch hat man es mit Menschen zu tun, die Schwierigkeiten mit dem Rechnen haben oder die Brotsorten nur anhand der Schilder an ihnen auseinanderhalten können. Das ist keine Kritik an diesen Verkäufern, läßt mich aber vermuten, daß wohl inzwischen sehr schlecht bezahlt wird.

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Nun sollen also — Reform! Reform! — die Ladenschlußzeiten fallen. Während die Anhänger der neuen Religion des Einkaufens frohlocken, geht der Chef des hessischen Einzelhandelsverbandes, Frank Albrecht, von 2000 verlorenen Arbeitsplätzen allein in Hessen aus. Auch die Verlagerung der Arbeitszeit auf weit nach 20 Uhr wird das Familienleben von Verkäuferinnen nicht gerade bereichern.

Die dadurch ausgelöste weitere Konzentration auf Ketten und Discounter läßt auch für Berliner Händler und ihre Kunden nichts gutes befürchten.

Barbara Dribbusch schreibt:

Die geplante Freigabe des Ladenschlusses ist Lifestyle-Politik: leicht zu machen, weil man dafür keine Staatsgelder ausgeben muss. Aber die Kosten dafür tragen andere.

Man kann es auch billigen Populismus nennen.

[Und mal ehrlich: Einkaufen als Freizeitbeschäftigung?]
[Kurzwarenladen, Fischhalle anyone?]

One Response to “Lifestyle-Politik: Schuld bin ick und du”

  1. Au ja, am Ostersonntag um Mitternacht zu WalMart – ick freu mich drauf ;-(

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