Tatort: Unter uns (HR)

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Meinen ersten Film von Margarethe von Trotta habe ich in den Achtzigern im Osten im Kino gesehen: „Rosa Luxemburg“. Ich war damals ziemlich beeindruckt: Anstatt die Ikone des Sozialismus wie üblich auf ihr politisches Engagement zu reduzieren, wurde hier das Bild eines Menschen mit starken Gefühlen gezeigt, aus denen heraus sich Haltungen und Wirkungen entwickeln. Eine Heldin wird verständlich in ihrem Handeln. Bevor ich Heinrich Böll las, hatte ich im Fernsehen „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ gesehen, zu dem von Trotta gemeinsam mit Volker Schlöndorf das Drehbuch geschrieben hat.

Nun also Regie in einem Tatort. Der arbeitslose Wolfgang Kunert (Michael Brandner) nimmt in einer frustrierten Kurzschlußhandlung eine Arbeitsbeamte als Geisel und flüchtet mit dieser. In solchen Fällen muß Polizei schnell und dennoch kühl und überlegt reagieren. Das ist eine Konstellation (Buch: Katrin Bühlig) wie geschaffen für das unstete, konzentrierte und in der Kommunikation stets etwas neben der Spur liegende Frankfurter Team. Allerdings ist der Film gar nicht so temporeich inszeniert, wie zum Beispiel Das letzte Rennen oder Der Tag des Jägers. Von Trotta nimmt die Geschwindigkeit heraus, und so überträgt sich das scheinbare Desinteresse am Fall ein wenig auf den Zuschauer. Dies jedoch nur solange bis tatsächlich schneller Einsatz gefragt ist: Showdown im Palmengarten.

Das verminderte Tempo hat einen Grund. Neben dem Fall wird eine zweite Geschichte erzählt: Das im Wohngebiet der beiden Polizisten neueingezogene Mädchen Ronja (Charlotte Lüder) sieht, was niemand sonst wahrnimmt. Ein anderes Mädchen, das niemand zu kennen scheint, wirft einen Ball aus dem Fenster. Nachdem Ronja insistiert, das Mädchen kennenzulernen, wird das Fenster mit schwarzer Folie verklebt. Diese Nebenhandlung steigert immer mehr — man lernt die gleichgültige Verwandtschaft kennen und am Ende es ist tatsächlich ein unerträglicher Fall von Mißhandlung durch Vernachlässigung mit unversöhnlichem Ausgang.

Der Film ist sicher inszeniert mit hervorragenden Schauspielern (toll auch: die völlig neben sich stehende Frau des Geiselnehmers, gespielt von Franziska Walser), ruhigen Bildern und großartiger Musik (Chris Heyne). Auch die Animositäten zwischen den Polizisten (immer wieder schön: Peter Lerchbaumer und Thomas Balou Martin) werden angenehm nebensächlich abgehandelt. Einzig beim Flachbildfernseher in der Wohnung der Familie, die ihre Tochter fast verhungern läßt, habe ich mich gefragt, ob das nicht doch ein wenig zu diffamierend ist. Auch bleibt am Ende die Frage offen, was denn nun die beiden Fälle miteinander zu tun haben — einfach nur zwei verschiedene Formen sozialen Elends zu zeigen kann man vielleicht ein bißchen dünn finden. Aber: da ich mich sonst immer aus dem Fenster lehne, wenns im Tatort zu pädagogisch wird, muß ich mich hier, wo eben keine Moral gelehrt und kein Zeigefinger erhoben wird, zurückhalten.

Und Bov Bjerg hat nach der Interpretin von „Sometimes I feel like a motherless child“ gesucht: hier und hier.

[Erstsendung: 14. Oktober 2007]

4 Responses to “Tatort: Unter uns (HR)”

  1. Noga says:

    Wieso soll der Flachbildfernseher diffamierend sein. Darauf läuft es doch häufig raus: Für den Kindergarten ist kein Geld da, aber für technische Finessen sehr wohl.

    • olimdevona says:

      Eltern in einer solcher finanziellen Situation wie die fünfköpfige Familie im Film zahlen nix für den Kindergarten. Also ist das wohl blankes Vorurteil!

      • stralau says:

        Das stimmt so nicht generell. In vielen Kommunen bekommt man die Kindergartengebühr nur dann erstattet, wenn man einen Arbeitsplatz hat. Was manchmal eine Zwickmühle sein kann: Arbeitgeber erwarten sofortigen Arbeitsbeginn, die Kinder lassen sich aber nicht sofort an den Kindergarten gewöhnen.

  2. ozean says:

    Ein wirklich beeindruckender Tatort. Mir hat besonders gefallen, wie der Film sich auch am Ende noch Zeit genommen hat. Definitiv einer der besten Tatorte der letzten Jahre. (Ganz oben aufs Treppchen mag ich ihn noch nicht stellen – dazu soll man sich ja ein wenig Zeit lassen. Bei Gegen die Wand habe ich auch erst ein paar Wochen nach dem Film gemerkt, wie stark er mich beeindruckt hat.)

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