Nostalgia de la luz (Nostalghia for the light) (Chile 2010, 90 min.) — Internationales Programm Dokumentarfilm
Die chilenische Atacama-Wüste wurde durch die kürzliche Bergmänner-Rettung bekannt. Sie ist jedoch aufgrund ihrer außerordentlichen Trockenheit beliebt sowohl bei Astronomen, die hier den Beginn der Zeit erforschen, als auch bei Archäologen, die die gut erhaltenen Zeichen in den Felsen deuten, die Nomaden vor tausenden Jahren hinterließen.
Der Film besucht beide Forschergruppen und zeigt in spektakulären Bildern die Schönheit und Unvergänglichkeit der Wüste, der Spuren aus der Vergangenheit und der graziösen langsamen Teleskoptechnik. Schön ist es, die Forscher dabei in ihrem Antrieb und ihrer Leidenschaft zu sehen, den Astronomen, dessen Suche nach dem Urknall letztlich von den religiösen Fragen getrieben wird und den Archäologen, der mit viel Witz und Wärme zwischen seinen Kisten sitzt und die Vergangenheit erklärt.
Eine dritte Gruppe von Menschen sucht in der Wüste: das sind die Ehefrauen, Mütter und Töchter von Männern, die in der Pinochet-Diktatur in der Wüste in Konzentrationslagern gefangen wurden, die ohne Spur verschwanden und deren Leichenteile in der Wüste auftauchen. Diese Suche dieser Frauen, denen man bis heute die Wahrheit vorenthält, ist auch hartnäckig, aber verzweifelt, schmerzhaft, krank.
Seine ganz besondere Stärke hat der Film an den Stellen, wo er die drei Gruppen zusammenbringt, wo der Archäologe beim Identifizieren der Leichen hilft und der Astronom sich die Frage stellt, warum die Gesellschaft großes Verständnis für seine Suche nach der ganz entfernten Vergangenheit hat, den Frauen aber, die nach der jüngsten Vergangenheit suchen, sagt, daß doch irgendwann einmal Schluß sein müsse.
Big Bang Big Boom (Blu, Italien 2010, 9.55 min.) — Internationaler Wettbewerb Animationsfilm
Blus Trickfilme, die er in die Stadt zeichnet, verleiten dazu, sie nur wegen ihrer Technik anzusehen. Die Geschichte dahinter wird dann zweitrangig und wenn man mehr als einen dieser Filme gesehen hat, werden sie ein bißchen austauschbar. Dennoch haben mir viele kleine Ideen in Big Bang Big Boom sehr gut gefallen, besonders der Raketenstart gegen Ende ist ganz großartig.
Zur Eröffnung im Cinestar die üblichen Politikerreden, Knut Elstermanns charmante Moderation und eine weitere bewegende Rede von Claas Danielsen — an diesem Mann ist ein guter Pfarrer verlorengegangen: Pathos schwingt immer in seinen Reden, aber es ist Pathos im besten Sinne — Leidenschaft für die Dinge, die geschehen und von denen die Filme erzählen, Leidenschaft für die Menschen, deren Schicksal wir erleben und Leidenschaft für eine Welt, die veränderbar ist durch die Liebe, mit der wir ihr begegnen.
Die Sonne scheint über Leipzig als wir ankommen, aber das Highlight wird das Verschwinden im Dunkeln sein: heute abend beginnt DOK Leipzig, das 53. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm und wer in dieser Woche Zeit hat, sollte herkommen: eine Woche Filme mir Liebe zum Gegenstand, Filme mit Herzblut, Filme, die die Welt zeigen und ganz anders sind, als das, was man an Dokumentarfilmen normalerweise im Fernsehen zu sehen bekommt.
Das Festival ist aus dem Untergrund aufgetaucht und in der Stadt jetzt sehr deutlich sichtbar. Die verstärkte Öffentlichkeitsarbeit hat wohl auch zum Anstieg der Besucherzahlen beigetragen — es ist jetzt richtig voll in den Kinos, aber es gibt auch mehr Filme.
Doof: teils deutlich verspätete Anfangszeiten, „weil noch Leute an der Kasse stehen“. Bei einem so engen Programm geht das nicht, da verpaßt man immer wieder die Anschlußfilme. Auch doof: diverse Pannen beim Vorführen.
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Mit Kind mußte ich mich auf das Wesentliche konzentrieren: Animationsprogramm leider fast völlig verpaßt.
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Claas Danielsens Eröffnungsrede, für die er sich am zweiten Tag ein bißchen bei den Sponsoren entschuldigen mußte, war Thema auf den Gängen.
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Schön, daß der atmosphärische Ballsaal des Lindenfels dabei ist und auch die Schaubühne (neuerdings Centraltheater) ist für eine Preisverleihung ein würdigerer Ort als das Cinestar.
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Ein bißchen schwierig ist nicht erst in diesem Jahr das Hantieren mit dem Katalog und dem Programmheft, vor allem, weil die Filme im Katalog alphabetisch nach Originaltitel geordnet sind, im Programmheft jedoch nur die englischen oder deutschen Titel auftauchen.
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Nächstes Jahr: 18.–24. Oktober 2010. Wir sehen uns.
Ras, dwa, tri – Jolotschka, gori! (One, Two, Three – Light the New Year Tree!) (Oleg Uschinow, Rußland 2009 | 7:46 Min.)
Oje. Eine Weihnachtsgeschichte mit einem Bären, dem ein Kleinkind zuläuft, das später Snegurotschka wird und Väterchen Frost. All das aber in so penetranter russisch-nachgemachter Disney-Coke-3D-Ästhetik, daß es fast schon als ironisch durchgehen könnte. Nur geht solche Art Ironie im Kinderprogramm am Publikum vorbei.
Miriami katkine pilt (Miriam’s Broken Picture) (Priit Tender, Estland 2008, 5:00 Min.) — Anima für Kinder
Die Kinder und das Huhn sind allein zuhaus, streiten sich und dann passiert etwas. Wie geht man damit um? Fein beobachtete Alltagsgeschichten mit Drive, Rhythmus und Knetanimation.
FC Murmeli (Jochen Ehmann, Dustin Rees, Schweiz 2008, 3:30 Min.) — Anima für Kinder
Ein Fußballspiel in den Bergen zwischen Murmeltieren. Sehr rasanter, rhythmischer und witziger Zeichentrick, in dem es auch unter der Erde weitergeht, der Schiedsrichter in seinem Loch etwas überfordert ist und entsprechend geholzt wird. Am Ende kommt der Geier.
Beim Kinderpublikum der deutlich beliebteste Film.
Rutti Berg (Matthias Bruhn, Alexandra Schatz, Deutschland 2008, 4:00 Min.) — Anima für Kinder
„Rutti Berg, die Bäuerin, wär so gerne Königin.“ Ein Gedicht über Träume und was passiert, wenn sie in Erfüllung gehen, mit wunderschönem Schweizer Akzent gelesen, dazu liebevoll schräge Bilder. Feine Sache.
Katakombo (Michael Zamjatnins, Deutschland 2008, 7:37 Min.) — Anima für Kinder
Ein verwunschener Zeichentrickfilm, in dem ein Mädchen seinem Fisch in die Kanalisation folgt, dort einem bösen Menschen begegnet und später mit diesem gemeinsam baden geht. Schöne Ideen mit Licht und Schatten.
Glinka (The Clayboy) (Stepan Kowal, Rußland 2008, 12:42 Min.) — Anima für Kinder
Der Golem meets Der Wolf und die sieben Geißlein: Ein Töpferehepaar wünscht sich so sehr ein Kind und eines Tages verwandelt sich ein Gefäß im Ofen in einen Jungen, der aber immer mehr frißt, bis … Rasante Knetanimation mit Liebe zum Detail.
Levi geht der These nach, daß bei den Ermittlungen zum Anschlag auf den Pan-Am-Flug 103 der Falsche verurteilt wurde und auch Gaddafi nicht der Hintermann war. Alternativtäter könnte die palästinensische Gruppe „Volksfront zur Befreiung Palästinas General Command — PFLP-GC“ im Auftrag des Iran sein.
Amüsant ist es, anzusehen, wie er die Aussagen der verschiedenen Ermittler (schottische Polizei, FBI, CIA) miteinander konfrontiert und mit naivem Blick und einem Handschlag den Protagonisten abverlangt, ihn nicht anzulügen. Allerdings ist es am Ende doch enttäuschend, wie er einerseits außer bekannten Indizien nicht viel zu bieten hat, sich andererseits im Film stark selbstinszeniert.
RAS Nucléaire, Rien à signaler (Nuclear NTR, Nothing to Report) (Alain De Halleux, Belgien, Frankreich 2009, 58 Min.)
In den europäischen Atomkraftwerken macht sich die Privatisierung der Energie in den Neunziger Jahren bemerkbar: für sicherheitskritische Instandhaltungsarbeiten werden immer öfter Leiharbeiter beschäftigt. Diese verdienen bei gefährlicher Schwerstarbeit 1200 bis 1500 Euro im Monat und sind als Atomnomaden in ganz Europa unterwegs. Die Konzerne haben sich von der Nullrisiko-Politik verabschiedet und arbeiten jetzt mit kalkulierten Risiken. Der Film fragt sich, ob das verantwortbar ist und ob Konzerne, die ihre Arbeiter so schlecht behandeln, die Bevölkerung besser behandeln würden.
RAS Nucléaire, Rien à signaler lebt von den sehr stimmungsvollen Interviews mit ehemaligen Arbeitern, die einen erschreckenden Einblick in den laschen Umgang mit Risiken geben. Auch die Aufnahmen der Atomkraftwerke von außen und innen sind spektakulär. Einzig der Kommentar spricht manchmal fernsehaft zu viel aus.
Interessant: In Österreich gab es 1978 ein Referendum, bei dem der Verzicht auf Atomkraft beschlossen wurde.
Die Preise wurden in diesem Jahr im Centraltheater verliehen (wer das nicht kennt: das ist das umbenannte Schauspielhaus), ein Ort, der ein bißchen mehr Glamour hat als das Neubau-Cinestar. Allerdings war es keine so gute Idee, den Preisträgern, nachdem sie auf die Bühne gekommen waren, noch einmal ihr Gesicht bei der Verkündung vorzuspielen.
Ich habe nicht alles erlebt, weil irgendwann meine Tochter keine Lust mehr hatte.
Preise bekommen haben:
Goldene Taube Dokumentarfilm Langmetrage:Les Arrivants (Frankreich) ein Film über Migranten in Paris.
Silberne Taube Dokumentarfilm Langmetrage:La Casa (Kolumbien, Spanien) über eine Müllsammlerfamilie in Kolumbien
Goldene Taube Dokumentarfilm Kurzmetrage:Tying Your Own Shoes (Kanada): Jugendliche mit Down-Syndrom malen ihr Leben
Lobende Erwähnungen der Internationalen Jury Dokumentarfilm:
Goldene Taube Deutscher Dokumentarfilm:Rich Brother Ein Kameruner Profiboxer in Deutschland
Lobende Erwähnung der Deutschen Jury Dokumentarfilm:Das Rudel, ein Film über die Ultras von Union
Talent-Taube (Internationaler Nachwuchswettbewerb):Antoine (Kanada) über einen sechsjährigen blinden Jungen, der Geräusche aufnimmt und entschlüsselt
Lobende Erwähnung der Internationalen Jury für Nachwuchs-Dokumentarfilm:Side om Side (Dänemark) über das Drama eines langjährigen Nachbarschaftsstreites in Jütland
Goldene Taube Animationsfilm:Spārni un airi (Estland, Ausschnitt)
Doc Alliance Award:Maggie vaknar på balkongen (Schweden) über eine Kenianerin in Malmö, die Goldschmuck liebt und Angst vor Tauben hat
DEFA-Förderpreis:Die Frau mit den 5 Elefanten (Deutschland, Schweiz) über die Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier
MDR-Filmpreis:Chemia (Polen)
Verdi-Preis:Les Arrivants
Preis der ökumenischen Jury:Les Arrivants
Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique:Cooking History (Österreich, Slowakei, Tschechische Republik): Militärköche kochen Schlachten des 20. Jahrhunderts nach
Preis der Jugendjury der Filmschule Leipzig:Die Eroberung der inneren Freiheit (Deutschland) über sokratische Dialoge zwischen Philosophen und Gefangenen der JVA Tegel. Der Preis der Jugendjury ist selbstgebastelt und war in diesem Jahr nicht so peinlich wie 2008, ganz im Gegenteil, ich fand ihn sehr gelungen.
Mephisto-Publikumspreis für Animationsfilm:Wallace & Gromit – A Matter and Loaf and Death (Großbritannien, Trailer)
Pink Peanut der Publikumsjury (Animationsfilm):Orgesticulanismus (Belgien)
Träume der Lausitz (Bernhard Sallmann, Deutschland 2009, 90 Min.) — Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm
Die Lausitz hat regelmäßig ihren eigenen Nebenschwerpunkt auf dem Leipziger Festival. Wie Peter Rocha hat auch Bernhard Sallmann seine Lausitz-Trilogie. Aber wenn man die ersten beiden Filme — „Die Freiheit der Bäume“ und „Lausitz 20X90“ — nicht kennt, kann man „Träume der Lausitz“ auch als Nachfolger zu Rochas Trilogie lesen: Rocha endet mit der Zerstörung der Landschaft durch die Braunkohle, Sallmann setzt da fort, wo die Braunkohle gegangen ist: arbeitslose Ingenieure, Restdörfler, Seenlandschaften, der Wolf kehrt zurück und durch die Internationale Bauausstellung entstehen Monumente in der Landschaft. Wie Rochas Filme auch, lebt „Träume der Lausitz“ von wunderbaren Aufnahmen der verwunschenen Lausitz gepaart mit der Musik der Natur und Technik in der Landschaft.
„Träume der Lausitz“ zeigt fünf Protagonisten — von Sallmann hinterher mit Schuberts Forellenquintett verglichen — die das Neue gestalten oder auf es warten oder es erleben. All das in einer gestalteten Landschaft, die zu neuer Form finden muß. Der Wolf steht hier nicht für die Wildnis, sondern für die Aussöhnung zwischen Mensch und Natur.
Die Lausitz träumt wieder, aber die Zukunft ist ungewiß. Die Kohle gräbt sich weiter in die verwunschene Landschaft, aber sie wird langsamer und die Leute kommen zum Nachdenken.
Milltown, Montana (Rainer Komers, Deutschland 2009, 33 min.) — Breathless — Dominance of the moment — Deutsch-tschechisches Dokumentarfilmprojekt
Eine Collage aus Milltown, Montana, einer Stadt der Arbeit, die eins prosperierte und nun stillsteht. Ein Film wie ein Musikvideo im besten Sinne: Bilder und Töne bauen einen faszinierenden Rhythmus auf, es gibt keinen Kommentar im Film. Absolut mitreißend.
Time’s up — An Experiment in Time Management (Marie-Catherine Theiler, Jan Peters, Deutschland 2009, 15 min.) — Breathless — Dominance of the moment — Deutsch-tschechisches Dokumentarfilmprojekt
Wie bekommt man die Zeit in Griff und ist dabei noch in der Lage, auf außergewöhnliches zu reagieren. „Time’s up“ vereint das, was mich an deutschen Filmen oft stört: gefällige Ironie ohne echte Themen, kindlich-bunte Farben und Berlin-Mitte-Darsteller.
Mám ráda nudný život (I Love My Boring Life) (Jan Gogola, Tschechien, Deutschland 2009, 26 min.) — Breathless — Dominance of the moment — Deutsch-tschechisches Dokumentarfilmprojekt
Wir tauchen ein in das Tagebuch von Alena Nemcová, die Radio hört, Gymnastik macht, ihre Umgebung beobachtet und überall Zusammenhänge sieht, die teils übersinnlich sind. Amüsant.
Im Breathless-Projekt sind bei einer Ausschreibung von DOK Leipzig, ZIPP deutsch-tschechische Kulturprojekte, der Kulturstiftung des Bundes sowie dem Dokumentarfilminstitut Prag sechs Dokumentarfilme zum Thema Zeit entstanden, die alle in Leipzig Premiere hatten.
Es wird einmal gewesen sein (Anca Miruna Lazarescu, Deutschland 2009, 28 min.) — Breathless — Dominance of the Moment — Deutsch-Tschechisches Dokumentarfilmprojekt
In der Burchardikirche in Halberstadt wird das längste Orgelstück aufgeführt: John Cages „As slow as possible“ wird eine Dauer von 639 Jahren haben. Seit dem Beginn im Jahr 2000 gab es bisher acht Klangwechsel auf der Orgel, die während des Stückes nach und nach aufgebaut wird. Der Film zeigt das Projekt, das über die menschlichen Vorstellungen hinausreicht, in ruhigen Bildern, die Zeit lassen, den Fragen, die das Projekt aufwirft, nachzuspüren: Was wäre denn „As slow as possible“ wirklich? Ist es egal, ob es 639 oder nur 250 Jahre sind? Wird John Cage in 300 Jahren noch als Avantgarde wahrgenommen werden? Ist es wirklich noch ein Konzert, wenn abends die Kirchentüren abgeschlossen werden und kein Publikum da ist?
Schnitt und Kamera sind dem Stück angemessen und lassen kluge Menschen zu Wort kommen, u.a. den Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger, der die Aufführung mitinitiierte und der in dieser Woche verstorben ist.
Kansakunnan olohuone (The Living Room of the Nation) (Jukka Kärkkäinen, Finnland 2008, 74:00 Min.) — Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm
Die Katalogankündigung — „Aki Kaurismäki meets Ulrich Seidl“ — macht eher skeptisch und anfangs kommt auch eher der Verdacht auf, daß hier ein Episodenfilm der gefälligen Sorte gezeigt würde. Erst nach einer Weile wird klar, daß hier ernste Geschichten erzählt werden, Geschichte von Liebe, Treue, Verrat, Verzweiflung, vom Altern und vom Tode. Verschiedene Protagonisten, über ganz Finnland verteilt, leben ihr Leben vor einer fast immer stillstehenden Kamera. Die Spannung und das Drama gewinnt „Kansakunnan olohuone“ durch den Schnitt, der immer wieder überraschende Zusammenhänge herstellt.
The Time of Their Lives (Jocelyn Cammack, Großbritannien 2009, 69:43 Min.) — Internationales Programm Dokumentarfilm
Eine Journalistin, eine Friedensaktivistin und eine kommunistische Schriftstellerin, die gemeinsam im Altersheim leben und zwischen 87 und 102 Jahren alt sind. Wunderbare britische alte Schachteln mit Witz und Engagement. Allerdings leidet der Film doch sehr unter seinem schlechten Ton, so daß man vieles nicht versteht.
Hotel Sahara (Bettina Haasen, Deutschland 2008, 90:00 Min.) — Doc Alliance Selection.
Warum können Europäer einfach durch Afrika trampen oder mit dem Fahrrad fahren, während Afrikaner, um nach Europa zu kommen, Hotelbuchungen und viel Geld vorweisen müssen?
Nebenbei zeigt „Hotel Sahara“ die unglaubliche Verlogenheit, die hinter einem europäischen Begriff wie „illegale Einwanderung“ steht und das Gegenteil der immer wieder hochgehaltenen Freiheit bedeutet. Vor allem aber werden Menschen gezeigt, die in der nordmauretanischen Nouhadibou stranden und auf eine Überfahrt auf die europäischen Kanarischen Inseln hoffen. Menschen, die die Hoffnung auf ein besseres Leben haben, Menschen, die die Welt kennenlernen wollen, Menschen, die schon hoffnungslos sind, weil sie es schon vergeblich versucht haben.
In jedem Falle aber Menschen, die sich der Ursachen für die Beschränkung ihrer Reisefreiheit sehr bewußt sind. Zentraler Punkt: Pater Jérôme, der sie von der sehr riskanten Überfahrt abbringen will, aber auch in seinen Messen immer wieder die Ungerechtigkeit und ihre Ursachen deutlich beim Namen nennt.
Ruhige Bilder, die dem Publikum Zeit geben, sich auf die Menschen einzulassen und ihren Lebensgeschichten zuzuhören.
Doc Alliance ist eine Organisation verschiedener Dokfilmfestivals, die hier in Leipzig ein eigenes Programm zeigt. Sehr interessant ist auch das Downloadportal bei docalliancefilms.com.
… uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.
Der Filmtitel spielt an auf Robotnicy ’70, einen Film, den Krzysztof Kieślowski über den Danziger Werftarbeiterstreik von 1970 gedreht hat. Robotnicy ’80 ist ein beeindruckendes Zeitdokument über den 1980er Streik und die darauffolgenden Verhandlungen zwischen Regierung und Arbeitern, ausgelöst durch die Kündigung der Kranarbeiterin Anna Walentynowicz.
Bewegte und bewegende Schwarz-Weiß-Bilder zeigen ein beeindruckendes Klassenbewußtsein der Danziger Arbeiter, die sich mit ihren Forderungen (Streikrecht, unabhängige Gewerkschaften, Einschränkung der Zensur, ein Ende der Verfolgung der Streikenden, ein Denkmal für die gefallenen Arbeiter von 1970) nicht kleinkriegen lassen, die genau wissen, daß ohne sie als Arbeiter nichts läuft, die aber auch die eisernen Grenzen des Systems genau kennen — das Militärbündnis im Warschauer Pakt.
Dazu ein ruhiger, charismatischer und in den Verhandlungen unglaublich gewitzter Lech Wałęsa, der sich einerseits den Regierungsvertretern nicht die Butter vom Brot nehmen läßt, andererseits, als sie das Streikrecht bekommen haben, weiß, daß ihnen nun nichts mehr geschehen kann (1981, mit Einführung des Kriegsrechtes, ist Solidarność dann doch bis 1989 verboten worden, aber das ist nicht mehr Teil des Filmes).
Robotnicy ’80 ist ein Dokument aus einer anderen Zeit, einer Zeit, in der Arbeitersolidarität noch eine Rolle spielte und Zusammenhalt etwas bewirkte. Zusammenhalt gegen die herrschende Nomenklatura, die vermeintlich im Namen der Arbeiter handelte.
Das Gefängnis ist ein Ort extremer Erfahrung. Gefangen in einem begrenztem Raum und erschlagen von der nicht endenwollenden Zeit, ist der Häftling auf sich selbst geworfen. Der Film “17 August” gibt einen Einblick, wie der zu lebenslang Verurteilte Häftling Besotetschestwo seinen Tag verbringt. Einblick ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn die Szenen aus der Zelle sind gerahmt von der Luke, mit der auch die Wärter in die Zelle schauen. Darin versucht Besotetschestwo mit grimmiger Verzweiflung, seinen Tag zu strukturieren: Gymnastik und Kraftübungen wechseln sich ab mit Selbstgesprächen und Gebeten. Das Highlight ist ein kurzer Ausgang auf einen engen Hof.
Während das Gefängnisinnere in schwarz-weiß gedreht ist, sind die Außenaufnahmen in Farbe. Ein Pferd wartet auf einem Hof. Erst am Ende des Films wird klar, daß es einen Sarg transportieren wird. Der Ausgang des Films, der sich an nüchterne Beschreibung hält, ist zutiefst pessimistisch. Dieses Gefängnis, das wie eine Festung direkt am Ufer eines Flusses liegt, verläßt niemand lebend.
Die zwei Regisseure begleiten die über 80-jährige Altzaney durch ihren Alltag. Sie ist Heiratsvermittlerin, Schlichterin, Vertrauensperson. Ihr gilt das Vertrauen der tschetschenischen Bewohner von fünf kleinen Dörfern, die isoliert vom Rest Georgiens im Gebirge liegen.
Es ist die Kamera, die diesen Film hervorhebt. Sie zeigt vor allem Ausschnitte, ist immer fast zu dicht dran, fokussiert auf Gesichter und Gesten und lenkt den Blick aufs Detail. Nino Orjonikidze und Vano Arsenisvili, die Regisseure, verzichten auf den großen Kontext. “Altzaney” ist eine Studie im besten Sinne, die im Kleinen die Akte und Mechanismen menschlichen Zusammenlebens zeigt.
Disko ja tuumasõda (Disco & Atomic War) (Jaak Kilmi, Estland/Finnland 2009, 78 Min.) — Internationales Programm Dokumentarfilm
Ein flottes Stück über den kalten Krieg im zwischen finnischem und estnischem Fernsehen. Finnland und Estland (damals sowjetisch) sprechen sehr ähnliche Sprachen und sind nur durch den schmalen finnischen Meerbusen voneinander getrennt. Disko ja tuumasõda ist ein sehr flottes unterhaltsames Stück über den Propagandakrieg zwischen den beiden Ländern, der auch für Finnland, das immer unter sowjetischer Bedrohung stand, nicht ganz risikolos war. Es geht dabei sowohl um Propaganda und Gegenpropaganda als auch um die estnischen Tüftler, die immer neue Erfindungen ersannen, um weiter finnisches Fernsehen empfangen zu können.
Einzig die Guido-Knopp-haften Realfilmnachspielungen sind an manchen Stellen etwas übertrieben.