Archiv für die Kategorie „Dok-Leipzig 2007“

Dok-Leipzig (xv): Kamienna Cisza

Sonnabend, 10. November 2007

Ahem: Aufmerksamen Nasen wird aufgefallen sein, daß die Nummer xv fehlte. Nun soll es kein Geheimnis sein, daß ich die Texte immer abends im geschrieben habe und über den Tag verteilt automatisch posten ließ. Da ist wohl was schiefgelaufen. Deswegen hier noch ein Nachzügler, der Preisträger der ökumenischen Jury:

Kamienna Cisza (Krzysztof Kopczynski, PL 2007, 52 min.)
Amina ist 2005 in einem afghanischen Dorf umgekommen. Es gibt deutliche Hinweise auf eine Steinigung wegen Ehebruchs. Krzysztof Kopczynski ist hingefahren und hat sich umgehört. Was ist passiert?

Amina wurde von ihrer Familie mit Muhammad verheiratet. Dieser ging jedoch kurz nach der Hochzeit zum Arbeiten in den Iran und ward nicht mehr gesehen. Später wurde sie am späten Abend bei Karim erwischt, und zwar von dessen Vater. Er übergab sie an ihre Familie – und von da an gehen die Geschichten auseinander. Die Dorfbewohner wollen nichts von der Steinigung wissen („Was habe ich davon, wenn ich es Dir erzähle?“), der Richter trauert, daß der Staat die Tat nicht sühnt, Karim ist in die Berge geflüchtet und Aminas Mutter sagt, es geschehe ihr recht. Die Männer, die für kurze Zeit im Gefängnis sitzen, streiten es ab und jemand erläutert, daß eine Steinigung wegen Ehebruchs nur dann in Frage kommt, wenn es vier Zeugen gibt. Der Menschenrechtsrat interessiert sich nicht für diesen Fall.

Später wird die Steinigung allerdings eingestanden, da zeigt die Kamera aber, wie so oft in diesem Film, nicht die sprechende Person. Überhaupt ist die Kamera bemerkenswert: mit einem wachen Blick werden die Menschen und die Landschaft gezeichnet — einerseits. Andererseits muß sich die Kamera immer wieder zurückziehen. Wichtig für diesen Film ist auch die Dramaturgie: ausgehend vom Dorf, bewegen wir uns zunächst in die Stadt (Richter, Gefängnis, Menschenrechtsrat), dann wieder ins Dorf und zuletzt in die Berge. Das macht aus diesem Film, der kommentarlos die Menschen abbildet, eine Geschichte. Nebenbei werden kleine Geschichten erzählt: von den Kindern, dem Vieh, der Landschaft.

Dok-Leipzig (xvii)

Sonnabend, 10. November 2007

So, das war’s. Meine Klausur am Münchner Bahnhof neigt sich dem Ende zu und mehr Filme habe ich nicht gesehen. Ich fand es wunderschön auf dem Dokfilmfest in Leipzig: die Stadt, das Klima auf dem Festival und auch die Filme selbst — mit jedem Dokumentarfilm taucht man ja in eine ganz neue, eigene Welt ein.

Es bleibt ein kleines schlechtes Gewissen: ähnlich wie beim Schreiben von Texten im Internet, kann man beim Ansehen dieser Filme schnell das Gefühl bekommen, sich jetzt aber gehörig emotional mit einem Thema befaßt zu haben. Hat man vielleicht auch, aber die Welt hat sich kein bißchen geändert jetzt.

Schade übrigens, daß man nicht alles sehen kann. Ich habe an fünf Tagen gefühlt ein Fünftel des ganzen Programmes gesehen. Mehr ging nicht rein, echt, mir war am Ende etwas flau im Magen. Im nächsten Jahr sollte man wohl lieber die ganze Woche hinfahren — wir sehen uns!

Dok-Leipzig (xiv): Animation für Kinder

Sonnabend, 10. November 2007

Das ist ja doch ganz nett: das Kino voller Kinder, die entweder gebannt mitgehen oder von dummem Mist auch schnell gelangweilt sind.

Miriam merehädas (Sokk, Tenusar, Kivi, Tungal, Pedmanson, Neljandi, Lili, Kikas, EST 2007, 5 min.)

Die Kinder und das Stoffhuhn sind allein zu Haus vor dem Fernseher. Als eine schwimmende Ente im Fernsehen zu sehen ist, wird das Huhn neidisch und bekommt eine Badewanne eingelassen. Irgendwann ist die Wohnung überflutet und seltsame Dinge geschehen. Rasanter Puppentrickfilm mit viel Witz und Sinn fürs Detail.

Ein sonniger Tag (Gil Alkabetz, D 2007, 6.15 min.) Die Sonne produziert sich den ganzen Tag, um den Menschen zu gefallen, stößt aber ständig auf Ablehnung: Sonnenbrillen, Hüte, Schirme, Strandburgen. Erst am Abend hat sie ihre große Show. Sehr schöne Zeichnungen, hübsche Ideen.

Puslácis (Nils Skapans, LV 2007, 8.30 min.) Ein Bär verschwindet und entdeckt eine Bärin. Knetanimation, etwas kitschig, zu sehr an Erwachsene, die das Kind in sich entdecken, gerichtet.

Krickels Abenteuer – Das alte Sofa von Kapitän Flint (Zamjatnins, Loll, Blach, D 2006, 8 min.) Ein Mädchen findet im Sofa die alte Schatzkarte von Kapitän Flint und macht sich auf die Suche nach dem Schatz. Im Sofa verbirgt sich allerdings auch — als Kissen getarnt — Kapitän Flint selbst, der das Schatzfinden verhindern will. Wunderschöne Kreidezeichnungen (computeranimiert, wie alles heute), hübsche Einfälle mit Formen, aber etwas magere Story.

Ma voisine et moi (B 2006, 8 min.) Stop-Motion mit Knete und anderen Materialien. Ein fader Film, der zum Energiesparen animieren soll und von einem entsprechenden belgischen Ministerium bezahlt wurde. Hätte nicht sein müssen.

Treffen sich zwei Fische (Armand Langer, Karl Nopens, D 2006, 0.40 min.) Köstliche kurze Fischanimation. Die beiden Filmemacher, ca. 10 Jahre alt, waren im Publikum und wurden von den anderen Kindern gefeiert. Aus denen wird noch was.

Der 99-Zentimeter-Peter (D 2007, 2.16 min.) Jetzt ist das schon eine Woche her und es waren wirklich viele Filme — tut mir leid, an den kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

Paul und sein erster Schultag (Nippe, Dannehl, D 2006, 4 min.) Pinguine sind niedlich, aber sie entschuldigen nicht jeden Film. Knetanimation über einen Pinguin, der erst wegen seiner Brille verlacht wird, diese dann versteckt und wegen Unfällen ausgelacht wird und am Ende doch noch geliebt wird. Naja.

Ernst im Herbst (Sieber, Schuh, Sauermann, Soi, D 2006, 6.40) Wunderbare schräge 3D-Animation mit souveränem Erzähler, die sich sehr locker über die Erzählebenen und die Bildgrenzen hinwegsetzt. Fein.

My Happy End (Vitanov/Schneider, D 2007, 5.20 min.) Rasante Zeichen-/Computeranimation von der HFF „Konrad Wolf“ im Stile der 20er Jahre.

Canary Beat (Haas, Lom, Luven, D 2006, 2.30 min.) Ein Kanarienvogel als Human Beat Box. Sehr hübsche, rhythmische Knetanimation.

Dok-Leipzig (xiii): Kretos Sala

Freitag, 9. November 2007

Kretos Sala (Oksana Buraja, LT 2007, 26 min.)

Krasser Film. Zwei Zausel leben in einem riesigen alten Gehöft, wo sie ihr Leben vertrinken und von Kreta träumen. Gyntas und Kestas sind völlig aus der Gesellschaft herausgefallen und träumen von der Erlösung in Kretas Sagenwelt. Nicht nur das Thema ist kraß, auch die Umsetzung ist radikal. Die Leinwand ist weiß — im Schnee sind nur die beiden zu sehen, wie sie von Kreta singen. Auf einer Wiese tanzen und prügeln sie sich, im Haus sehen sie die Geister.

Und es passiert nichts mehr im Leben der beiden.

Dok-Leipzig (xii): Kredens

Freitag, 9. November 2007

Kredens (Jacob Dammas, PL/DK 2007, 27 min.)

1968 hat die polnische Kommunistische Partei in einer antisemitischen Kampagne fast alle noch in Polen lebenden Juden aus dem Land vertrieben. Jacob Dammas Eltern gingen damals aus Breslau nach Kopenhagen. Doch sie ließen ihre Kredenz zurück. Kredenz, das ist der schöne Name für eine Küchenkommode. Sie war 150 kg schwer — und wie Dammas’ Onkel sagte, brauchte es vier starke Männer und eine Flasche Wodka, um sie zu transportieren. Sie hatte zuvor vertriebenen Deutschen gehört und Dammas’ Eltern mußten sie bei ihrer Flucht zurücklassen.

Und da soll sie auch bleiben, sagen die Mutter und die Tante. Die Türen sind zu und sie sollen es bleiben. Jacob Dammas aber fährt nach Breslau und spricht mit den Nachbarn auf der Suche nach der Kredenz. Und er stößt auf Vorurteile, Ablehnung, Ahnungslosigkeit, aber auch auf seltsam-freundliche Aufnahme mit Verbrüderung. Gleichzeitig zeigt er die Telefonate mit seiner Mutter, die sein Vorhaben immer noch nicht gutheißt. Der Film ist sein Abschlußfilm an der Andrzej Wajda Master School of Film Directing in Warschau. Vorher hat er an der Humboldt-Universität, in Toronto und Roskilde studiert. Sowas klingt immer ganz schön beeindruckend.

Dok-Leipzig (xi): Ugolnajy Pyl

Freitag, 9. November 2007

Ugolnaja Pyl (Marija Miro, RUS 2006, 20 min.)

Alexej Stachanow in der Sowjetunion, Adolf Hennecke in der DDR: Bergarbeiter waren Helden im Sozialismus. Marija Miro hat die Kumpel der Grube von Kopejsk in den Schacht begleitet. Die stillen Menschen erzählen vom Leben in Dunkelheit, vom Lungenkrebs durch den Staub und davon, wie sie jetzt mit wenig Lohn klarkommen müssen. Aber was will man machen? Die Zeiten der Helden sind vorbei, man muß sehen, wie man klarkommt. Bemerkenswert: Kopejsk ist Gefängnisstadt, in der Grube arbeiteten mehr Gefangene als Freie. Und: die Schule, in der an die Stelle alter Rituale etwas hilflose Formalitäten getreten sind.

Dok-Leipzig (x): Kinder. Wie die Zeit vergeht.

Donnerstag, 8. November 2007

Kinder, wie die Zeit vergeht (Thomas Heise, D 2007, 90 min.)

Eine Familie im Plattenbauviertel Leipzig-Grünau. Zu Beginn des Filmes sehen wir eine junge Mutter, die mit 15 schwanger wurde und über ihren ersten Sohn Tommi jetzt sagt: „Schade drum“, während beim Jüngeren noch was zu machen sei. Sie ist Busfahrerin. Später im Film hat sie dann den Mann kennengelernt, mit dem zusammen sie das lang gewünschte Mädchen bekommen hat.

Der Film begleitet vor allem Tommi, am Rande aber die ganze Familie. Und es geht wirklich um Begleitung — im Unterschied zum in letzter Zeit in Mode gekommenen Unterschichtenvoyeurismus, zeichnet dieser Film kein dramatisch schlimmes Bild. Ruhig und geradezu lakonisch schauen wir in Tommis Welt und die seiner Familie. Wir erleben Krisengespräche zwischen Toni und seinem sehr souveränen Lehrer. Wir lernen seinen rechtsradikalen Freund kennen und seinen Bruder, der gut in der Schule ist, aber nicht aufs Gymnasium will („meine Mutter will das auch nicht“).

Thomas Heise ist ein Meister der Einfühlung. Und so wirken seine Reportagen aus den ganz normalen Familien niemals denunzierend. Heise stellt sich deutlich auf die Seite derer, die er beschreibt und kann dadurch viel mehr Details und Zwischentöne beschreiben als es unbeteiligte Beobachter könnten.

Der Film ist schwarz-weiß gedreht, was ihm guttut. Und was die Landschaft in Koepps Holunderblüte, ist die Industrie- und Wohnarchitektur im ehemaligen Chemiedreieck bei Heise: sie wirkt wie ein stummer Kommentar des Filmemachers, der sich sonst ganz zurücknimmt.

Dok-Leipzig (ix): Jugend in der DDR

Donnerstag, 8. November 2007

Kontraste (Sieglinde Hamacher, DDR 1982, 5 min.) Eine großartige Animation des Andersen-Märchens „Der Wassertropfen“. Die Zeichnungen sind wunderbar anrührend abstrakt — und dazu gibt es großartige Neue Musik von Hans-Friedrich Ihme. Daß noch 1982 Filme wegen Formalismus verboten wurden (in diesem Fall wurde — ungewöhnlich, wie Frau Hamacher erzählte — auch das Negativ vernichtet), wußte ich nicht.

Es genügt nicht, 18 zu sein (Kurt Tetzlaff, DDR 1964, 23 min.) Oha! Das Dokumentarfilmpendant zu „Spur der Steine“: Eine junge Brigade in der DDR, hier Männer, die nach Öl bohren (ja, es gab ein bißchen Erdöl in der DDR). Der Sozialismus wird aufgebaut, aber kein Blatt vor den Mund genommen gegenüber Schlamperei und Opportunismus.

Formal sehr gelungen: Großartige Bilder vom Bohrturm (Tetzlaff erzählte, wie schwierig es war, die große Kamera dahinzukriegen — Handkameras gab es da in der DDR noch nicht), Originalton (auch neu damals) und Cinemascope — eher ungewöhnlich für Dokfilme.

Manfred Krug, der auch in „Spur der Steine“ die Hauptrolle spielt, spricht hier einen schönen Kommentar am Anfang und am Ende und wie „Spur der Steine“ wurde auch dieser Film auf dem 11. Plenum verboten.

Kurt Tetzlaff konnte hinterher wunderbar aus dem DDR-Kulturbetrieb berichten und ließ sich — unterstützt vom begeisterten Publikum — auch vom auf die Uhr schauenden Moderator nicht aus der Ruhe bringen („Eines muß ich Ihnen noch erzählen …“).

Träumt für morgen (Hugo Herrmann, DDR 1956, 20 min.) Kinder im Nachkriegsberlin, die zunächst einem Hinterhofpuppentheater zusehen, um hernach ihrem kranken Freund ein selbstgebasteltes solches vorzuspielen. Putzig, aber viel zu offensichtlich inszeniert und brav. („Wie der Stahl gehärtet wurde — das Buch hast Du Dir doch immer gewünscht!“).

Rock ’n Roll (Jörg Foth, DDR 1987, 18 min.) Ein junges Paar, das leidenschaftlich Rock ’n Roll tanzt und entsprechend nostalgisch drauf ist, wird in der Silvesternacht 86/87 bei gefühlt 20 Auftritten in Berlin gefilmt. Wirkt heute ganz nett retro, aber unspektakulär. Warum der Film verboten wurde, ist mit völlig unklar.

Martins Tagebuch (Heiner Carow, DDR 1956, 29 min.) Carows erster Film, in dem eine recht brave Geschichte langatmig erzählt wird: ein Junge verschweigt schlechte Noten zu hause, bis alles auffliegt. Der gute Lehrer setzt sich beim strengen Vater für den Jungen ein und so wird am Ende doch alles gut. Tetzlaff weist darauf hin, daß Filme, die dann am Ende ins Kino gekommen sind, die Kompromißfassung darstellen.

Dok-Leipzig (viii): Der Himmel auf Erden

Donnerstag, 8. November 2007

Wenn man sich nicht teilen kann, kommt man nicht auch nur annähernd dazu, alle der vorgestellten Filme des beeindruckenden Programms zu sehen. Man kommt nicht einmal dazu, in alle Reihen auch nur hineinzuschauen.

Lost Paradise Found war eine Sonderreihe, deren Filme alle irgendwie mit dem Paradies zu tun haben. Kann man machen, wenn man will. Der Himmel auf Erden wiederum ist im Rahmen von Lost Paradise Found eine Sammlung von Kurzfilmen, die das Paradies schon gefunden haben. Mehr Gemeinsamkeit gibt es leider nicht.

Mit Mutti ins Paradies (Bettina Schoeller, D 1996, 4 min.) Die Filmemacherin fährt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter nach Gran Canaria. Dort naschen sie verbotene Früchte. Eine einfache, witzige Idee, die trägt.

Proximity (Inger Lise Hansen, N 2006, 4 min.) Zeitrafferaufnahmen einer Küstenlandschaft, wobei als Besonderheit das Bild um π/2 gedreht ist, der Himmel also unten und das Land oben ist. Das ganze ist so artifiziell und langweilig, wie es sich anhört.

Himmelfilm (Jiska Rickels, D 2004) Menschen aus verschiedenen Ländern erzählen vom Himmel ihrer Kindheit. Dazu sieht man Landschaftsbilder. Nuja.

Isgnanije is raja (Ustinov, Nikolajeva, RUS 2004, 2 min.) Filmisches Dokument einer Kunstaktion: Ein nacktes Paar geht wie Adam und Eva zu McDonalds in St. Petersburg und nascht von den Tellern der Gäste bis sie rausfliegen. Das wirkt besser als es klingt, auch wenn der Film nur eine reine Dokumentation der Aktion ist.

Teekond Nirvaanasse (Mait Laas, EST 2000, 13 min.) Eine große Menge von Tricks aus der Geschichte des Animationsfilms wird angewendet, um — nun ja, eine nicht allzu spannende Drogenphantaise zu inszenieren.

Mast Qalandar (Till Passow, D 2003, 29 min.) Mast Qalandar ist ein heiliger der muslimischen Sufi, der im 13. Jahrhundert in Pakistan lebte und dort noch heute verehrt wird. Der Film begleitet ohne Kommentar Pilger auf ihrem Weg zum Heiligtum. Das ist sehr überzeugend: wir sehen Chaos, Buntheit, Drogenräusche, Euphorie, Sterben, blutige Selbstgeißelungen mit Messerbündeln und seltsamen Gesang — aber die Gesichter und Gesten der Menschen suggerieren dem europäischen Zuschauer, daß in dieser für ihn so fremden Welt alles in Frieden und bester Ordnung ist.

Ach, es ist so schön, ein Käfer zu sein (Dagie Brundert, D 1995, 3 min.) Ahem. Der Film wäre vielleicht als Scherz einer achten Klasse durchgegangen. Was die Veranstalter geritten haben mag, ihn aufzunehmen, weiß der Geier.

Dok-Leipzig (vii): Holunderblüte

Mittwoch, 7. November 2007

Holunderblüte (Volker Koepp, D 2007, 88 min.)

Ich weiß nicht, ob das ein Zeitphänomen ist, oder ob Leipzig schon immer so speziell war: angenehm, daß die gezeigten Dokumentarfilme ohne das große Pathos auskommen, das Fernsehproduktionen, aber auch den amerikanischen Überzeugungsfilm á la Michael Moore auszeichnet. Statt dessen strahlen viele Filme eine faszinierende Sicherheit aus, ein Vertrauen in die erzählten Geschichten, die ohne starke Überwältigungsmittel auskommen können.

Volker Koepp fährt seit vielen Jahren in das nördliche Ostpreußen. Zunächst nach Litauen und seit 1992, als Ausländer wieder hinfahren durften, ins Kaliningrader Gebiet. Von dort hat er schon mehrere hochgelobte Filme mitgebracht, die ich jetzt eigentlich alle sehen will.

Die Natur holt sich das Land wieder zurück: Sümpfe entstehen, wo einst Ackerbau betrieben wurde. Nach Auflösung der Kolchosen wird nichts mehr angebaut. Holunderblüte besucht Kinder auf dem Lande. Kinder, die eine traurige Geschichte und keine Zukunft haben: die Eltern trinken und haben ihre Kinder verlassen. Diese sind auf sich gestellt.

Holunderblüte hat jedoch wenig von den Elendsreportagen über Straßenkinder in Bukarest oder Moskau. Wir erleben eine Gruppe von Kindern, die mit einer unglaublichen Zärtlichkeit umeinander besorgt sind. Die ihr Leben allein auf die Reihe kriegen und dabei auch Träume haben. Es entsteht der Eindruck einer neuen Gemeinschaft, die leben will, auch wenn es hart ist — die Kinder sind die einzigen, die das übriggeblieben Vieh noch melken.

Erwachsene kommen kaum vor in Holunderblüte. Einmal sieht man zwei Trinkerinnen streiten. Die Schule und ihre trostlosen Rituale werden gezeigt. Dafür gibt es (neben den Kindern) eine weitere Hauptdarstellerin des Filmes: die ostpreußische Landschaft. Und das macht den Film erst so reizvoll: die Verbindung der Geschichten der Kinder mit der Verlorenheit der Dörfer zwischen den Sümpfen, den Wäldern, dem Haff und den ziehenden Störchen. Und auch die Musik paßt. Es ist ein stiller Film.

Wenn der Film jedoch bei aller Trauer den Trost vermittelt, daß diese Kinder wenigstens einander haben, erfährt man hinterher im Gespräch mit dem Regisseur, daß es dann doch meist hoffnungslos endet: der kleine Junge mit den finsteren Visionen ist später mit seiner Mutter von den anderen Erwachsenen aus dem Dorf gejagt worden; das Mädchen, das als Kind einen furchtbaren Unfall hatte und die nur auf ihre Volljährigkeit wartete, um ihre geliebten Brüder aus dem Heim holen zu können, ist verschwunden. Und von den zehn Geschwistern, die völlig allein sind, fehlen inzwischen auch einige.

Dok-Leipzig (vi): Cold Waves

Mittwoch, 7. November 2007

Cold Waves (Alexandru Solomon, RO 2007, 115 min.)

Während des kalten Krieges sendete Radio Free Europe (RFE) von München aus in verschiedenen Sprachen für die Ostblockländer außer der DDR (für die gab es den RIAS) und der Sowjetunion (hier sendete Radio Liberty). Bis 1972 von der CIA finanziert, übernahm das danach der amerikanische Kongreß. Cold Waves beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen RFE, seinen Hörern und dem rumänischen Regime.

Und das ist dann einerseits tatsächlich die Kalte-Kriegs-Story, andererseits, wenn man es richtig macht, doch unerwartet nahegehend: wie wichtig freier Informationszugang für die Hörer in Rumänien war, unter welch abenteuerlichen Bedingungen Nachrichten von den Hörern zum Radio gelangten, wie das Verhältnis der rumänischen Radio-Mitarbeiter zu den amerikanischen Aufsehern war, die ab den siebziger Jahren keine Verstimmung in der Entspannung wollten. Wie der rumänische Geheimdienst (u.a. mit Hilfe der Terroristen Carlos und Weinrich) Anschläge gegen den Sender und seine Mitarbeiter im Ausland verübte. Wie die RFE-Mitarbeiter und Anschlagsopfer damit leben. Wie Securitate-Mitarbeiter zynisch die Vergangenheit beschönigen und weiterhin im Parlament sitzen. Wie sowohl Securitate- als auch RFE-Mitarbeiter nach der Wende Karriere im Fernsehen gemacht haben.

Und wie letztenendes niemand mehr Radio hören wollte, als die Revolution von 1989 live im (inzwischen befreiten) rumänischen Staatsfernsehen gezeigt wurde.

Gut erzählte Geschichte mit Witz und ohne falsches Pathos und sehr guten Bildern. Es ist ja kein einfaches Unterfangen, einen Film übers Radio zu machen. Ein gewitzter junger Regisseur, dessen nächster Film sich mit dem lebensgefährlichen Bukarester Straßenverkehr befaßt.

Dok-Leipzig (v): Staub

Mittwoch, 7. November 2007

Staub (Hartmut Bitomsky, D/CH 2007, 92 min.)

Dieser Film handelt von, nun, Staub. In einer Pigmentfabrik, einer Luftmeßstation, einem Reinraum, bei einer Hausfrau mit Putzfimmel, einer Staubsammlerin, Künstlerinnen, bei Wissenschaftlern, die nicht gut erklären können und solchen, die es können, über Uranmunition, Saharastaub in Regenwolken und Feinstaub in Lunge und Herzen. Ein kurzweiliger Film im Armin-Maiwald-Stil mit tollen Bildern, guter Kamera und schöner Musik, in dem man Dinge lernt, die man nie wissen wollte. Nächstes Jahr im Kino.

Dok Leipzig (iv): Animadok 2

Dienstag, 6. November 2007

Animadok zeigt Dokumentarfilme, die als Animation gedreht sind.

Under Construction (Zhenchen Liu, F 2007, 9.55 min): In Schanghai werden viele alte Viertel weggerissen. Die Bewohner kommen oft nur gegen Bestechung raus. Simulierte Kamerafahrt, Interviews mit Bewohnern, eindrücklich.

Fraught (Brotchie, Terell, Pahlow, Australien 2006, 8 min): Menschen sollen peinliche Momente in ihrem Leben nacherzählen. Die Interviews sind als Trickfilm nachgezeichnet. Das ist dann sehr lustig, wenn auch etwas überambitioniert.

And Life Went On (Mariam Mohajer, UK 2006, 6.22 min): Menschen in einem iranischen Luftschutzbunker, kurz vor dem Bombeneinschlag. Sie sprechen über alltägliches. Großes Thema, etwas eindimensional.

Bully Beef (Wendy Morris, B 2007, 6 min.): Belgische Kolonialgeschichte im Kongo. Beeindruckend surreale Zeichnungen, aber zu wenig Hintergrundwissen beim Zuschauer, ähnlich wie bei Jegyzökönv – Mansfeld Péter emlekere.

Uitverkocht (v. d. Linden, v. Dijk, NL 2007, 7.30 min.): Das Sterben eines Kramladens durch den neuen Supermarkt in einer anrührenden Geschichte der Besitzerfamilie gezeichnet.

The Old, Old, Very Old Man (Hobbs, UK 2007, 6.38): Irre trockene komische Geschichte über einen Mann, der 1635 an den Hof von König Charles gebracht wird, und dort mit 152 Jahren stirbt. Blaue Wasserfarbenzeichnung, sehr abstrakt. Großes Kino.

Je suis une voix (Rousset, Paturle, F 2007, 14 min) Zwei Franzosen sprechen über ihre Einstellung zu politischem Engagement. Nuja.

Blot — Ilham (Mischa Kamp, NL 2006, 6 min) Ilham, eine holländische Muslima, spricht über ihre erste Menstruation. Sehr frisch mit guten Zeichnungen. Allerdings waren mir diese teilweise zu unangenehm explizit, aber das ist eher mein Problem.

Dok Leipzig (iii): Internationaler Wettbewerb Animationsfilm 2

Dienstag, 6. November 2007

Gegenüber den abendfüllenden Dokumentarfilmen fallen die Animationen etwas ab. Während die ersteren häufig mit sehr viel Herzblut in eine dem Zuschauer bis dato unbekannte Welt einführen, wirken die Animationen dagegen häufig blasser. Das liegt aber wahrscheinlich nur zum Teil an den Animationen selbst, zum größeren am Kontrast gegenüber den Dokfilmen.

Migration Assistée (Pauline Pinson, F 2006, 4.34 min.): Zugvögel auf Reisen, die Saison der Liebe und der Feiern beginnt. Allerdings können nicht alle mitfliegen. Wer zum Beispiel eine Stickstoffallergie hat, wird im Flugzeug in eine Art Ferienlager geflogen, das fast genauso schön ist, wie der echte Zielort. Aber eben nur fast. Schnell, sehr witzig, gute Musik.

Silizium – Schaltkreis 5 (Nordholt, Steingrobe, D 2007, 6.30 min.): Sehr aufwendig gemachter Film, der die Entstehung einer digitalen Komposition beschreibt. Der Grundgedanke ist leider, daß Silizium im Sand am Wegesrand und in Mikrochips vorkommt. „Was sich aus ihnen rechnet, abbildet und zu Klang wird, sind symbolische Strukturen als Verzifferung des Realen“. Wäre das nicht alles so wirr, hätte es ein schöner Film sein können.

Zudusi Snega (Vladimir Leschiov, LV, S 2007, 7.50 min.): Menschen gehen eisfischen und trinken dabei viel Alkohol. Sehr schräg, sehr schön.

Liebeskrank (Spela Cadez, D, SLO 2007, 8.30 min.): Wunderschöner Puppentrickfilm in bester tschechischer Tradition. Patienten beim Arzt, die nicht mehr aufhören zu Weinen, deren Herz gebrochen ist oder denen der Kopf verdreht wurde. Auch schöne Musik.

Tong (Real, Cellier, Limouson, F 2006, 9 min.): Computeranimation, allerdings weder ästhetisch besonders, noch mit guter Geschichte.

Doshd swerchu wnis (Ivan Maximov, RUS 2007, 7.45): Lauter kleine Phantasiewesen, die in den Bergen leben und von einem Regenguß überrascht werden. Sehr Skurril, viel Bewegung, schön gezeichnet und gute Musik.

The Designer (John Lewis, AUS 2007, 9.30): Düstere Stop-Motion-Geschichte über einen Schöpfer und seine Kreaturen in der Savanne. Leider hält die Geschichte nicht, was die Animation verspricht.

Jegyzökönv – Mansfeld Péter emlekere (Zoltán Szilágyi Varga, H 2007, 7 min.): Die Geschichte des 18jährigen Péter Mansfeld, der 1959 im Zusammenhang mit dem Ungarnaufstand hingerichtet wird. Schön gezeichnet, der Film setzte aber Geschichtskenntnisse voraus, die beim Zuschauer nicht vorhanden waren.

Asef (Sorry) (Martin Putto, NL 2007, 3.15) Der hat mir am besten gefallen. Eine ganz einfache Idee, die aber die ganze Geschichte tragen kann. Ein des holländischen nicht mächtiger Mensch ruft bei einer Frau an und fragt auf arabisch, ob er einen Holländisch-Sprachkurs bekommen kann. Sie versteht ihn nicht, er insistiert und am Ende hat sie Angst vor Terroristen. Gezeigt wird ein Oszilloskop, das die Sprache der beiden darzustellen scheint, aber Wellen des Mannes kommen von links, die der Frau von rechts und vor allem bestehen seine Wellen aus arabischen, ihre aus lateinischen Buchstaben. Mehr nicht. Klingt jetzt vielleicht banal, ist aber sehr überzeugend.

Milk Teeth (Tibor Banoczki, GB 2007, 11.20 min.) Düster gezeichneter Angstfilm, in dem ein kleiner Junge nachts seiner Schwester folgt, die in einem Maisfeld ihren Liebhaber trifft. Verworrend.

Dok Leipzig (ii): Erinnerung an eine Landschaft – Die Lausitz-Trilogie

Dienstag, 6. November 2007

1987 bis 1990 entstanden, thematisiert die Lausitz-Trilogie die Zerstörung der sorbischen Dorfkultur durch den Braunkohleabbau. Die Sorben (oder Wenden) in der Ober- und der Niederlausitz sind eine slawische Minderheit mit einer eigenen Sprache. Obwohl die DDR mächtig stolz auf sie war, spielte ihre Kultur eher auf Vorzeigefesttagen eine Rolle.

Peter Rocha, der selbst aus der Gegend stammt, hat dieser Kultur, die zur Wendezeit schon sehr in der Auflösung begriffen war, ein Denkmal gesetzt und vor der Zerstörung von Kultur und Natur durch den sinnlosen Braunkohleabbau gewarnt. Interessant ist, daß die Braunkohle für die DDR so wichtig war, daß er noch im März 1990 Schwierigkeiten mit dem dritten Teil hatte. In der Nachwendezeit ging die Lausitz-Trilogie unter, so wird sie zum Beispiel erst jetzt das erstemal in der Lausitz selbst gezeigt.

Obwohl die Filme in ihrer ganz eigenen Ästhetik selbsttragend sind und eines Aktualitätsbezuges nicht bedürfen, sind sie leider immer noch von aktueller Bedeutung – Vattenfall baggert weiterhin die Lausitz ab.

Zur Dokfilmwoche ist die umfangreiche Doppel-DVD „Spurensuche“ mit Filmen aus der DDR für 25 € erschienen. Die Lausitz-Trilogie ist mit drauf.

Hochwaldmärchen (Peter Rocha, DDR 1987, 8 min.): In diesem Film wird von einer Kinderstimme das Hochwaldmärchen des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan erzählt. Dazu sehen wir eine Fahrt durch den Spreewald, dort wo er Hochwald ist. Am Ende gibt es eigentümliche Farbeffekte. Das Märchen handelt von der Zerstörung der Welt durch den Menschen, ist aber eben ein Märchen und hat es so durch die DDR-Zensur geschafft.

Leben am Fließ (Peter Rocha, DDR 1987/88, 30 min.): Wir begleiten eine sorbische Familie, die noch sehr ursprünglich am Wasser und mit der Natur lebt. Einige Leute arbeiten aber schon in der Stadt. Die Alte erzählt vom Ende ihrer Kultur.

Die Schmerzen der Lausitz (Peter Rocha, DDR 1989/90, 60 min.): Genau das zeigt der Film: Die Schmerzen der Lausitz. Jurij Koch beim Sinnieren über die Zerstörung, einen gewitzt-verrückten Findlingssammler, Tagebau-Arbeiter, Gundermann, dem man gern beim Erzählen zuhört (dafür singt er nur so mittel) und verlorene umgesiedelte Sorben beim Volksfest im zugigen Cottbusser Neubaugebiet. Dörfer, deren Einwohner in der Wendezeit Hoffnung verbreiten, daß der Raubbau zu stoppen ist.

Hauptdarsteller ist aber die geschundene Landschaft, deren Schmerzen in endlosen Hubschrauberfahrten über den Tagebauen offengelegt werden. Dazu sehr passend eine Toncollage aus Bergmaschinengeräuschen, wie man sie in den Braunkohlegebieten nachts oft aus der Ferne hört, wenn man nicht schlafen kann. Und Gundis Geklampfe, aber das hatten wir oben schon.

Dok Leipzig (i)

Dienstag, 6. November 2007

Das hätte immer so weitergehen mögen: jeden Tag durch diese schwere schöne Stadt träumen und ab Mittag ins Kino gehen und Filme sehen. Filme, von denen jeder einen in eine andere unbekannte Welt entführt. Nachts im Restaurant dann Gedanken spinnen, wie es wäre, wenn.

Stattdessen sitze ich in dieser Woche allein in Klausur in einem Hotel am Münchner Bahnhof und kann nichts tun als aufzuschreiben, was passiert ist. Das wird ein paar Tage dauern, aber ich bin auch eine Weile hier.