Von wegen Meinungsfreiheit

Sonntag, 5. Februar 2006
Spiegel 6/2006
Spiegel 6/2006

Na also. Nach der kalkulierten Provokation ist der Brand jetzt ausgebrochen und die Presse echauffiert sich über ach so rückständige Muslime.

Strafgesetzbuch §166 [Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen]:

(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs.3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs.3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Hat eigentlich schon jemand Anzeige erstattet? Immerhin scheinen ja auch deutsche Zeitungen die Karikaturen nachgedruckt zu haben, auch wenn nirgendwo steht, welche.

Religionsfreiheit bedeutet im übrigen nicht, daß Religion Privatsache ist, sondern daß niemand in der Ausübung seiner Religion behindert werden darf und daß der Staat weltanschaulich neutral (auch Atheismus bzw. Areligiosität sind letztlich Formen von Weltanschauung) ist. Auch das ist ein Ergebnis der Aufklärung.

Im übrigen ist unsere Gesellschaft bei weitem nicht so tolerant, wie momentan glauben gemacht wird. Auch bei uns gibt es Tabus, die mehr oder weniger streng sanktioniert werden:

  • Diskriminierung bestimmter Minderheiten
  • Kopftuchtragen im Schuldienst
  • Darstellung von Kinderpornographie
  • Benutzung der Symbole von Organisationen des Dritten Reiches
  • Verbreitung der Auschwitzlüge

Diese Tabus existieren aus mehr oder weniger guten Gründen. Sie zeigen aber, daß die Meinungsfreiheit auch bei uns Einschränkungen unterliegt. Dabei ist es nicht ganz egal, welche Einschränkungen das sind — das kann schnell willkürlich werden. Und im Zweifel ist es besser zuzulassen, als zu verbieten. Dennoch stimmt es eben nicht, daß, wie momentan pathetisch verkündet wird, die Meinungsfreiheit höher als alle anderen Grundsätze steht.

Claus Malzahn, der Luther gegen Bin Laden in Stellung bringen muß, um die Unterlegenheit des Islam belegen zu können, fordert, mehr Demokratie zu wagen. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus.

8 Responses to “Von wegen Meinungsfreiheit”

  1. Lichter in der Finsternis…

    Inzwischen melden sich in der Blogosphäre mehr und mehr besonnene, mitfühlende, besorgte, zweifelnde Menschen zu Wort. Ich kann dazu hier jetzt gar nicht viel sagen – außer: Danke für die Hoffnungsschimmer! Europäische Rabbiner lehnen muslimfeind…

  2. gruber says:

    Dankeschön! – Irgendwie kann man sich im gegenwärtigen medialen Chor nicht des Eindrucks erwehren, daß da nicht die Freiheit einer dänischen Zeitung, dem dumpfen Volk die feinsinnige Ansicht satirisch nahezulegen, daß die Anhänger Mohammeds gleichzeitig Anhänger von Bombenträgerei seien, verteidigt wird. Es scheint meist eher darum zu gehen, sich diese Ansicht im Namen von Freiheit und Demokratie zu eigen machen zu dürfen.

  3. johnny says:

    Geht nur mir das so oder sind viele Blog-Beiträge tatsächlich spannender und “sinnvoller” als die Artikel speziell der ersten Tage bei den “Etablierten”?

    Dankeschön. Gut gesagt, das alles.

  4. Köppnick says:

    In der Wikipedia findet man im Abschnitt “Reaktionen der Presse” auch die Namen der sich beteiligenden deutschen Zeitungen:

    In Deutschland veröffentlichte Die Welt alle zwölf Karikaturen [10], Die Zeit, FAZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung und die taz einige, während Bild und Spiegel Online [11] einen Abdruck ablehnten. Der Nachrichtensender n-tv zitierte einen Redakteur der Welt mit den Worten „Das ist ein politischer Vorgang“. Bei der Tageszeitung Die Welt sind sechs der Karikaturen im Online-Angebot hier abrufbar.

  5. […] Der Staat und die Weltanschauungen: Deutschland ist weltanschaulich neutral. Deswegen sollte man genau hinkucken, was passiert, wenn nur die christlichen Kirchen in die Bildungsdebatte einbezogen werden. Neutral heißt aber nicht atheistisch — auch Atheismus ist eine Weltanschauung unter vielen. […]

  6. Christian says:

    Salve
    Auch wenn viel zu spät, oder eben gerade deshalb… lässt man ein Thema etwas liegen und schaut zurück, kommen doch einige Erkenntnisse dazu. Zumindest bei denen, die sich selber genügend kritisieren können.

    Ich muss gestehen, ich war hin und hergerissen zwischen der hochgelobten Meinungsfreiheit und der Überzeugung, dass Beleidigungen nichts mit Meinungsfreiheit zu tun hat. Letzteres hat obsiegt. Mein Grundsatz, dass meine Freiheiten dort aufhören, wo sie die Freiheit anderer tangieren hat mich bis heute gewisse Grenzen einhalten lassen. Nur um der Demokratie willen dürfen wir nicht einfach alles zulassen. Ausserdem sollten wir bedenken, dass es andere Kulturkreise gibt, die unsere Worte anders auffassen.

    Soll jetzt nicht heissen Schnauze tief, aber bitte schön, vor dem spitzen des Bleistiftes für die nächste Karikatur mal darüber nachdenken, was sie auslösen kann. Das gilt übrigens auch für das benutzen der Tastatur.

    Gruss
    Christian

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