Bahn für alle
Donnerstag, 2. November 2006[Das Wichtige zuerst: Bahn für alle ruft zum Mitmachen auf.]
Wenn man das private Leid der Enteigneten ausklammert, kann man die Privatisierungswelle in Deutschland seit 1990 als ähnlich ideologischen Irrweg wie die Verstaatlichungswelle in der DDR sehen. Wurde damals die Wirtschaft durch die Enteignung von nicht nur Groß- sondern auch traditionsreichen Familienunternehmen handlungsunfähig gemacht, geschieht dies heute dem Staat und damit der ganzen Gesellschaft.
Was hat man uns versprochen: mehr Service, mehr Leistungsbereitschaft, mehr Auswahl.
Was haben wir bekommen: Aus vielen kleinen Stadtwerken ist ein Kartell aus drei Stromanbietern geworden. Wo es früher an jeder Ecke ein Postamt gab, einige mit Öffnungszeiten bis nach Mitternacht, gibt es nunmehr ein paar überfüllte Filialen, die um 18.00 schließen. Aber die Post macht Gewinn, immerhin. Berlin bereut inzwischen den Verkauf von Gasag und Wasserbetrieben sehr, kann sich aber einen Rückkauf nicht leisten. Seit der Bahnreform gibt es keine Gepäckwagen und -aufbewahrungen mehr. Der Güterverkehr hat drastisch gelitten. Und viele Bahnlinien in die Fläche, die als Anschluß an die großen Linien wichtig sind, wurden aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.
Bei der Bahn wird seit einiger Zeit gestritten, ob eine Privatisierung mit Netz oder ohne stattfinden soll. Die Begründung für die Bahnreform war mehr Wettbewerb. Davon abgesehen, ob dieser wirklich sinnvoll ist: mit einem Verkauf des Netzes wird er nicht zu haben sein.
Bei der Bahn bietet sich aber jetzt auch eine Chance zum Umdenken, denn Erfahrungen aus anderen Ländern liegen vor: in Großbritannien mußte der Staat das Schienennetz nach der komplett gescheiterten Privatisierung für umgerechnet 21 Mrd. Euro zurückkaufen. In Lettland und Estland gibt es durch die harte Konkurrenz von billigeren Buslinien inzwischen keine Eisenbahn viele Linien nicht mehr (in Hapsal haben sie gerade den alten Holzbahnhof schön restauriert und Lautsprecher mit Bahngeräuschen angebracht, damit es mehr Feeling gibt).
Dabei ließe sich bei der Deutschen Bahn durchaus einiges privatisieren: das Unternehmen betätigt sich vermehrt auf eisenbahnfremden Gebieten als Logistikdienstleister. Mit der größten europäischen LKW-Spedition, Schenker, macht sich die Bahn beim Gütertransport selbst Konkurrenz. Auch der Aufbau von Güterzentren in Kasachstan gehört nicht unbedingt zu den Kernaufgaben des Staates.
In der aktuellen Verwirrung, in der der Mehdorn-hörige Verkehrsminister mit einem Abbruch der Privatisierung droht, fordert das Bündnis Bahn für alle genau das und ruft zum Mitmachen auf. Mit dabei der äußerst kluge Hermann Scheer.
Ein ganz anderes Verhältnis herrschte noch vor 125 Jahren, als mit dem Bau der Stadt- und Ringbahn Berlin moderne Verkehrsmittel bekam, die im Prinzip heute noch das Rückgrat der Beförderung bilden:
Das Projekt der Berliner Bahn rührt von dem tüchtigen Baumeister Orth her, der vor zwölf Jahren in einer Broschüre »Berliner Centralbahn« den Bau anregte. Oberbaurath Hartwich nahm das Orth’sche Projekt auf, modificirte dasselbe und führte es in’s Leben. Es thut dem Verdienst der ersten Bauunternehmer keinen Abbruch, daß die Gesellschaft, welche den Bau begann, nicht in der Lage war, denselben bis zum Ende durchzuführen, und das der besser ausgerüstete Staat den Weiterbau übernehmen mußte. Orth, Hartwich und Dircksen verdanken wir das kolossale Werk, welches 65 Millionen Mark kostete — sechs Millionen Mark pro Kilometer, während die Londoner unterirdische Bahn 14 Millionen Mark für dieselbe Strecke verschlang –, und das am 1. Juli 1882 für den lokalen Verkehr wie externen Verkehr fertig gestellt wurde. Der Betrieb der Berliner Stadtbahn — das muß rückhaltlos anerkannt werden — wird von dem Eisenbahndirektor Wex und seinem gesammten Stabe musterhaft verwaltet. Wenngleich aber sieben- bis achtmalhunderttausend Personen im Monat die Stadtbahn benutzten, war eine einigermaßen ins Gewicht fallende Verzinsung des Anlagekapitals im ersten Jahre nicht zu erzielen. Doch ist alle Hoffnung vorhanden, daß dies in der Folge geschehen wird. „Wer’s Recht hat und Geduld“ sagt Göthe — „für den kommt auch die Zeit“, und immer wird der alte Satz sich bewahrheiten, daß jede Erleichterung des Verkehrsbedürfnisses den Verkehr selbst in ungeahnter Weise steigert.
[aus: Emil Dominik: Quer durch und ringsum Berlin. Eine Fahrt auf der Berliner Stadt- und Ringbahn. Berlin 1883.]
Nicht ganz richtig ist es, dass es in Estland keine Einsenbahn mehr gibt. Ich habe vor gut vier Wochen am Bahnhof Tallinn gewohnt und einige Züge gesehen. Siehe auch Essti Raudtee. Richtig ist allerdings, dass der Verkehr von Tallinn nach St. Petersburg nur noch mit Bussen erfolgt.
Stimmt, das ist etwas verallgemeinert. Das war allerdings mein Eindruck, als ich dort war. Die Strecke nach Hapsal ist aber auch eingestellt. Wenn ich den Artikel richtig lese, gibt nur noch Reval — Pernau, Regionalverkehr rund um Reval und Güterverkehr.
Auch in Lettland gibt es noch ein bißchen was rund um Riga.
Auch nach Tartu (Dorpat) gibt es noch eine regeläßige Verbindung (ca. 200km von Tallinn).
Na gut, ich gebe mich geschlagen. ;)
Müssen Sie aber nicht, denn ansonsten finde ich den Artikel sehr gut und äußerst berechtigt!