Ich bin mit ihm bei den Ärzten gewesen
Freitag, 30. November 2007… und ich hab solche Sehnsucht.
… und ich hab solche Sehnsucht.
In den letzten Tagen eskalierte der Streit um den Uferweg am Grundstück von Michael Stalherm nocheinmal. Der lokale Entwicklungsträger Wasserstadt GmbH — eine private Tochtergesellschaft des Landes, die vor allem Schulden angehäuft hat — und zum Jahresende ihre Geschäfte einstellt, will vorher noch den geplanten durchgehenden Uferweg fertigbauen.
Während Walter Kracht (nach dessen Vorfahren in Stralau auch eine Straße benannt ist) nach langem Tauziehen einen Vergleich geschlossen hat und den Uferstreifen seines Grundstückes abgibt, läuft bei Michael Stalherm die Verhandlung um seinen Widerspruch gegen die Enteignung erst Mitte nächsten Jahres.
Herbert Helle von der Wasserstadt GmbH will nicht solange warten und hat nun festgestellt, daß ein Streifen um die Ufermauer sog. „Vorlandfläche“ ist. Man muß sich das so vorstellen, daß durch den Bau der Ufermauer vor dem Grundstück Land hinzugekommen ist, das nicht zum Grundstück selbst sondern dem Land Berlin gehört. Das Amtsgericht Lichtenberg stützt diese Position, allerdings hat die Wasserstadt jetzt angefangen zu bauen, ohne Stalherms Berufung dagegen abzuwarten.
Und jetzt gehts los: Die Bauleute greifen, da sie nicht auf Stalherms Grundstück kommen, vom Wasser aus an. Herr Stalherm wiederum verteidigt vom Lande seine Position mit dem Wasserschlauch.
Und ich ärgere mich, daß ich keine Zeit zum Fotografieren habe.
Na also. Doch nicht alle hysterisch:
Die von der “Militanten Gruppe” begangenen und geplanten Brandanschläge seien, so der Vorsitzende Richter Klaus Tolksdorf, “nicht geeignet, die Bundesrepublik Deutschland erheblich zu schädigen”.
[taz]
Gesammelte Links von Dienstag, 27. November 2007:
Veranstalter werden geschroepft
Gesammelte Links von Montag, 26. November 2007:
Hoechst seltsam: Warum werden Charsharing-Autos angezuendet?
Ich kokettiere manchmal mit meinem Unverstand, Ökonomie betreffend. Dabei sollte ich demütig sein und einfach ein gutes Buch lesen.* Nun ist bekannt, daß der Sozialismus sich nicht gerade durch ökonomische Weitsicht auszeichnete. Dabei ist es durchaus interessant, ob es theoretisch hätte besser laufen können, oder ob nur das konkrete Personal schlecht besetzt war. Jedenfalls hatten sich aber spätestens Anfang der Achtziger Schlamperei und Schlendrian in allen Schichten so sehr durchgesetzt, daß nicht mehr viel zu holen war.
Wie stark der ökonomische Unverstand allerdings bis in höchste Kreise verbreitet gewesen ist, erstaunt dann doch.
[Ich muß ein bißchen ausholen.] Beim Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen ist im vorigen Jahr ein hübsches Büchlein erschienen: Jens Schöne: Stabilität und Niedergang. Ost-Berlin im Jahr 1987. Aus den Stasiunterlagen wird anhand wichtiger Ereignisse des Jahres ein Bild der DDR-Gesellschaft und ihrer Widersprüche in den späten Achtzigern gezeichnet. Die Ereignisse sind: Die nervigen 750-Jahr-Feiern (mir war gar nicht klar, wie wichtig dabei die Konkurrenz zu und gleichzeitig die Abstimmung mit West-Berlin war); Honeckers Bonn-Besuch und die vorbereitenden Maßnahmen (Generalamnestie etc.); die Konzerte auf West-Berliner Gelände am Reichstag und die DDR-Jugend an der Mauer; der Skinhead-Überfall auf das Konzert von Die Firma und Element of Crime in der Zionskirche; die Stürmung der Umweltbibliothek in der Zionskirche durch die Stasi und die folgenden Festnahmen und Mahnwachen.
Am Ende des Buches gibt es dann noch ein paar Interviews mit Zeitzeugen – Bärbel Bohley (IFM, Neues Forum), Eberhard Diepgen (West-Berliner Bürgermeister), Jakob Ilja (Element of Crime) und Günter Schabowski (SED, Mitglied des Politbüros).
Und Schabowski sagt zur Ökonomie:
Als Kommunisten ließen wir uns dadurch [Notwendigkeit von Milliardenkrediten aus der BRD] nicht im Geringsten beeindrucken. Insbesondere die Kredite aus dem Westen raubten uns nicht den Schlaf, und das aus zwei Gründen. Wir hatten Anleihen bei kapitalistischen Banken genommen, und damit ohnehin nur zurückgeholt, was die Ausbeuter – zumindest nach der reinen Lehre des Marxismus-Leninismus – aus dem Proletariat herausgepreßt hatten. Moralische Bedenken fielen damit von vornherein aus. Politisch-ökonomisch sahen wir natürlich die Gefahr, durch die Kredite in Abhängigkeit zu geraten. Doch wir begriffen uns als kommende Sieger der Geschichte, letztlich würde sich die Überlegenheit unseres Gesellschaftssystems ohnehin erweisen. Und was sollte so schlecht daran sein, sich bis dahin von den Kapitalisten finanzieren zu lassen? Als eigentliches Problem sollten sich aber die Zinsen herausstellen. Die wurden immer drückender, und wir mußten auf den Westmärkten immer mehr Valuta erwirtschaften, um wenigstens die zahlen zu können. An eine Rückzahlung der Kredite war ohnehin nicht zu denken, aber solange die Zinsen bedient wurden, war das eigentlich kein Problem. Als Bürge stand dahinter ja ein ganzer Staat. Und da mit dessen plötzlichem Verschwinden nicht zu rechnen war, schienen die Anlagen für die Kreditgeber gesichert. Tatsächlich sollte es aber immer schwieriger werden, selbst die finanziellen Mittel für die Zinsen aufzubringen, spätestens Anfang 1989 war klar, daß sich daraus ernsthafte Probleme für uns entwickeln könnten. 1987 jedoch spielte das noch keine Rolle bzw. wurde ignoriert.
[Mir fällt gerade auf, daß ich gar nicht beurteilen kann, ob Politiker heute so viel mehr Ahnung haben (Unverstand, you know) – oder ob ihr Einfluß und damit der mögliche Schaden einfach nur geringer ist.]
*Davon abgesehen, daß ich wohl erstmal nicht dazu komme – kann mir jemand für Weihnachten eine vernünftige, unideologische Einführung in die Nationalökonomie empfehlen?
Schon passend, daß ausgerechnet der Spiegel einen Oberlehrer wie Sick beschäftigt. In einem Text, der u.a. klarstellt, daß Tschernobyl gar nicht so schlimm war, wie wir immer dachten, heißt es:
Dabei weiß doch heute jedes Kind, wie man cunt schreibt.
Ehrlichers (Peter Sodann) und Kains (Bernd Michael Lade) letzter Fall. Endlich! möchte man ihnen zurufen, denn auch dieser Fall hat die übliche Leipziger Betulichkeit, in der die Bösen grundsätzlich seltsam neureich sind und die so wenig mit der tatsächlichen Stadt zu tun haben, obwohl ständig Highlights sächsischen Standortmarketings gezeigt werden (in dieser Folge wurde Leipzig zum Beispiel als Stadt am Wasser dargestellt – Wasser gibt es zwar auch in Leipzig, aber auch wenn die wegen Gestankes zu DDR-Zeiten versiegelten Flüsse an einigen Stellen wieder geöffnet wurden, ist das Wasser mitnichten so präsent wie dargestellt).
Die Moral der MDR-Tatorte war: Die Stadt ist schön und Verbrechen kommen nur in ihrer obersten Schicht vor. Nebenher werden Ehrlichers beschauliche Kapitalismuskritik und seine verschmitzt-altbackenen Ansichten zur deutschen Einheit verhandelt. Aber auch wenn genau diese Themen die Schweriner Polizeirufe viel weniger selbstgefällig, dafür gewitzter und mit besseren Büchern prägen, ist das Leipziger Stammpersonal im Auftreten sehr glaubwürdig.
Aber ach. Auch wenn, wie gesagt, die Story (ein Bauunternehmer erpreßt überschuldete Kreditnehmer und zwingt sie zu sexuellen Dienstleistungen) sich in das übliche Leipziger Allerlei einreiht, zeigt die letzte Folge an einigen Stellen Möglichkeiten, von denen man sich wünschte, daß sie schon eher genutzt worden wären.
So bekommt Kain, dessen Figur von Mal zu Mal immer blasser wurde, wieder viel mehr Raum, was ihm guttut. Gut tut dieser Folge auch der dadurch entstehende Widerspruch zwischen dem etwas behäbigen Ehrlicher und dem unsicheren Kain. Der Nebenstrang, daß Kain a) eine Freundin bekommt, die b) auch noch in den Fall verwickelt ist, was ihn c) in Gewissensnöte bringt, hätte auch schiefgehen können, läßt aber in diesem Fall die Kain-Figur wieder so farbig wirken wie in den MDR-Tatorten der frühen Neunziger, als Sender und Tatort noch in Dresden residierten. Überhaupt scheint es mir, als hätten die frühen Dresdner Folgen mehr Biß, Relevanz und Erzählsicherheit gehabt als die späteren, immer etwas lustlos wirkenden. Sehr gern würde ich z.B. „Jetzt und alles“ von 1994 noch einmal sehen, ein Film über Crashkids mit melancholischer Landschaftskamera, hungrigen Bildern, leidenschaftlichem Schauspiel und sehr passender Musik. Der hätte auch im Kino laufen können.
Zurück zu „Die Falle“: Erwähnenswert sind noch die wirklich guten (Thomas Rühmann, Alexander Hörbe) und schlechten (Nina Gnädig) Nebenrollen. Es ist schade, daß mit Kain und Ehrlicher auch Walter gehen muß. Im nächsten Jahr geht es in Leipzig mit Simone Thomalla und Martin Wuttke weiter.
[Erstsendung: 11. November 2007]
Heute kein Tatort. Umso besser ist es, daß ausgerechnet die Dokfilme, die ich in Leipzig verpaßt habe, jetzt ins Fernsehen kommen. Heute, 22.15, Arte: Der Champagner-Spion (Nadav Schirman, Israel 2007). Aus dem Katalog:
Als Udi mit seinem Vater einen James-Bond-Film im Kino sieht, meint dieser, im wirklichen Leben sei das alles viel spannender. Er muß es wissen: Als Geheimagent spioniert er Anfang der 60er Jahre deutsche Wissenschaftler aus, die in Kairo an der Entwicklung eines ägyptischen Atomwaffenprogramms arbeiten. Aus dem Israeli Ze’ev Gur Arie wird der deutsche Ex-Nazi Wolfgang Lotz, als Pferdezüchter schon bald Mittelpunkt des sozialen Lebens der Deutschen und wertvolle Informationsquelle für den Mossad. Der macht sich erst Sorgen, als der Agent in der Rolle zu sehr aufgeht, das Luxusleben zu offensichtlich genießt und schließlich gar eine Deutsche heiratet – während Frau und Sohn in Paris auf ihn warten. Das private und politische Doppelleben fliegt auf, als er verhaftet wird. Und doch fangen die Probleme nach seiner Freilassung erst richtig an, folgt der rasche Abstieg eines Mannes, der es gewohnt war, Hauptdarsteller zu sein … Konsequent aus der Sicht des – verlassenen – Sohnes erzählt, mit Zeitzeugen-Berichten und einer Fülle von historischem Material unterlegt, entfaltet sich ein Politdrama, das gleichzeitig auch Agententhriller und Lovestory ist. Spannend sind daran nicht nur Details aus der Geheimdienstarbeit, sondern die Frage, inwiefern man ein anderer werden kann und welcher Preis dafür zu zahlen ist. Mit einem hatte Udis Vater allerdings Recht: Das ist aufregender als 007.
Döner, Pasta und ofenfrische Pizza.
Gesammelte Links von Donnerstag, 15. November 2007:
[via usaerklaert.wordpress.com]
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Gesammelte Links von Mittwoch, 14. November 2007:
Im Dorf wird wieder gestritten. Uraltes Thema: Der Uferwanderweg auf der Spreeseite und seine Unterbrechung durch das Grundstueck von Michael Stalherm.
Brrrgh.
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Ein totes Kind wird gefunden, überfahren wohl. Natürlich war es kein Verkehrsunfall — am Ende entfaltet sich eine Familientragödie. Ulrike Krumbiegel als Hauptdarstellerin spielt grandios die verzweifelte Mutter, der die Welt die kalte Schulter zeigt. Und so sind die eigentlichen Themen dieses Films Trauer und Empathie: Wie eine Mutter mit dem Verlust des Kindes klarkommen muß. Wie alle anderen in ihren Prozessen gefangen sind und diese auch im Ausnahmefall nicht verlassen können. Wie Tauber Grenzen überschreitet, Einfühlung zeigt, aber weiterhin allen klar zeigt, wo seine eigenen Grenzen sind (Überhaupt ist das Ausloten von Grenzen, Nähe und Distanz das Thema, das die Tauber-Figur in allen Münchner Polizeirufen variiert.). Die Szenen in der Gerichtsmedizin sind zwar hart an der Grenze zur Klamotte, doch hält dieser Film (Regie: Eoin Moore, Buch: Markus Thebe, Boris Golutta) die Waage und rutscht nicht auf Münstersches Komödiantenspiel ab.
Tauber ist nicht ganz so düster wie sonst — die helle Seite seiner schwarzen Seele bekommt mehr Raum, er wirkt fast heiter und gelöst. Dennoch hat er einige sehr starke Auftritte. Auch sonst ist dieser Polizeiruf sehr gut besetzt (Andreas Schmidt vom Balkon, Katharina Schubert, Stefan Merki). Die Story ist nicht besonders komplex, was aber durch gute Dialoge und vor allem die Dramatik wettgemacht wird. Außerdem gute passende Musik von Kai-Uwe Kohlschmidt (Sandow), Wolfgang Glum, Warner Poland.
[Erstsendung: 4. November 2007]
[Update: Und dann war da noch das Arztbook]
Ahem: Aufmerksamen Nasen wird aufgefallen sein, daß die Nummer xv fehlte. Nun soll es kein Geheimnis sein, daß ich die Texte immer abends im geschrieben habe und über den Tag verteilt automatisch posten ließ. Da ist wohl was schiefgelaufen. Deswegen hier noch ein Nachzügler, der Preisträger der ökumenischen Jury:
Kamienna Cisza (Krzysztof Kopczynski, PL 2007, 52 min.)
Amina ist 2005 in einem afghanischen Dorf umgekommen. Es gibt deutliche Hinweise auf eine Steinigung wegen Ehebruchs. Krzysztof Kopczynski ist hingefahren und hat sich umgehört. Was ist passiert?
Amina wurde von ihrer Familie mit Muhammad verheiratet. Dieser ging jedoch kurz nach der Hochzeit zum Arbeiten in den Iran und ward nicht mehr gesehen. Später wurde sie am späten Abend bei Karim erwischt, und zwar von dessen Vater. Er übergab sie an ihre Familie – und von da an gehen die Geschichten auseinander. Die Dorfbewohner wollen nichts von der Steinigung wissen („Was habe ich davon, wenn ich es Dir erzähle?“), der Richter trauert, daß der Staat die Tat nicht sühnt, Karim ist in die Berge geflüchtet und Aminas Mutter sagt, es geschehe ihr recht. Die Männer, die für kurze Zeit im Gefängnis sitzen, streiten es ab und jemand erläutert, daß eine Steinigung wegen Ehebruchs nur dann in Frage kommt, wenn es vier Zeugen gibt. Der Menschenrechtsrat interessiert sich nicht für diesen Fall.
Später wird die Steinigung allerdings eingestanden, da zeigt die Kamera aber, wie so oft in diesem Film, nicht die sprechende Person. Überhaupt ist die Kamera bemerkenswert: mit einem wachen Blick werden die Menschen und die Landschaft gezeichnet — einerseits. Andererseits muß sich die Kamera immer wieder zurückziehen. Wichtig für diesen Film ist auch die Dramaturgie: ausgehend vom Dorf, bewegen wir uns zunächst in die Stadt (Richter, Gefängnis, Menschenrechtsrat), dann wieder ins Dorf und zuletzt in die Berge. Das macht aus diesem Film, der kommentarlos die Menschen abbildet, eine Geschichte. Nebenbei werden kleine Geschichten erzählt: von den Kindern, dem Vieh, der Landschaft.
So, das war’s. Meine Klausur am Münchner Bahnhof neigt sich dem Ende zu und mehr Filme habe ich nicht gesehen. Ich fand es wunderschön auf dem Dokfilmfest in Leipzig: die Stadt, das Klima auf dem Festival und auch die Filme selbst — mit jedem Dokumentarfilm taucht man ja in eine ganz neue, eigene Welt ein.
Es bleibt ein kleines schlechtes Gewissen: ähnlich wie beim Schreiben von Texten im Internet, kann man beim Ansehen dieser Filme schnell das Gefühl bekommen, sich jetzt aber gehörig emotional mit einem Thema befaßt zu haben. Hat man vielleicht auch, aber die Welt hat sich kein bißchen geändert jetzt.
Schade übrigens, daß man nicht alles sehen kann. Ich habe an fünf Tagen gefühlt ein Fünftel des ganzen Programmes gesehen. Mehr ging nicht rein, echt, mir war am Ende etwas flau im Magen. Im nächsten Jahr sollte man wohl lieber die ganze Woche hinfahren — wir sehen uns!
Someone Like You (Nanna Frank Møller, DK 2007, 60 min.)
Eine kleine Artistengruppe bei der Vorbereitung ihrer letzten Vorstellung: sie werden sich trennen. Der Film erzählt die Geschichte der beiden Schwestern Aylin und Sky, die seit ihrer Kindheit, die nicht einfach war, unzertrennlich sind. Aber nun ist alles ausgespielt. Alle handelnden Personen sind sich dieses Dramas unglaublich bewußt. So bewußt, wie sie auch im Zirkuszelt auftreten: Aylin als Seiltänzerin und Sky als Clown. Dazu gehören noch drei oder vier Männer, die aber im Hintergrunde bleiben. „Someone Like You“ erzählt die Geschichte der beiden Frauen vor dem Hintergrund der Auftrittsvorbereitungen.
Im Unterschied zu den anderen Filmen haben die hier handelnden Personen viel Bühnenerfahrung und treten so ganz anders vor der Kamera auf. Das hält sie aber nicht davon ab, ihre Konflikte offen auszutragen. Ebenso präzise und bewußt, wie sie proben und auftreten, streiten sie sich. Man ist manchmal geneigt, dem Film zu mißtrauen, weil seine Bilder so schön und die Musik so passend zum Rhythmus des Zirkuszeltes ist. Aber es wird wirklich etwas erzählt.
Seltsam fand ich allerdings die Schnittechnik bei den Seiltanzauftritten von Aylin: jeder neue Kameraeinstellung wurde eingeleitet von der Wiederholung der letzten Sequenz der alten Einstellung. Mich hat das eher verwirrt.
Das ist ja doch ganz nett: das Kino voller Kinder, die entweder gebannt mitgehen oder von dummem Mist auch schnell gelangweilt sind.
Miriam merehädas (Sokk, Tenusar, Kivi, Tungal, Pedmanson, Neljandi, Lili, Kikas, EST 2007, 5 min.)
Die Kinder und das Stoffhuhn sind allein zu Haus vor dem Fernseher. Als eine schwimmende Ente im Fernsehen zu sehen ist, wird das Huhn neidisch und bekommt eine Badewanne eingelassen. Irgendwann ist die Wohnung überflutet und seltsame Dinge geschehen. Rasanter Puppentrickfilm mit viel Witz und Sinn fürs Detail.
Ein sonniger Tag (Gil Alkabetz, D 2007, 6.15 min.) Die Sonne produziert sich den ganzen Tag, um den Menschen zu gefallen, stößt aber ständig auf Ablehnung: Sonnenbrillen, Hüte, Schirme, Strandburgen. Erst am Abend hat sie ihre große Show. Sehr schöne Zeichnungen, hübsche Ideen.
Puslácis (Nils Skapans, LV 2007, 8.30 min.) Ein Bär verschwindet und entdeckt eine Bärin. Knetanimation, etwas kitschig, zu sehr an Erwachsene, die das Kind in sich entdecken, gerichtet.
Krickels Abenteuer – Das alte Sofa von Kapitän Flint (Zamjatnins, Loll, Blach, D 2006, 8 min.) Ein Mädchen findet im Sofa die alte Schatzkarte von Kapitän Flint und macht sich auf die Suche nach dem Schatz. Im Sofa verbirgt sich allerdings auch — als Kissen getarnt — Kapitän Flint selbst, der das Schatzfinden verhindern will. Wunderschöne Kreidezeichnungen (computeranimiert, wie alles heute), hübsche Einfälle mit Formen, aber etwas magere Story.
Ma voisine et moi (B 2006, 8 min.) Stop-Motion mit Knete und anderen Materialien. Ein fader Film, der zum Energiesparen animieren soll und von einem entsprechenden belgischen Ministerium bezahlt wurde. Hätte nicht sein müssen.
Treffen sich zwei Fische (Armand Langer, Karl Nopens, D 2006, 0.40 min.) Köstliche kurze Fischanimation. Die beiden Filmemacher, ca. 10 Jahre alt, waren im Publikum und wurden von den anderen Kindern gefeiert. Aus denen wird noch was.
Der 99-Zentimeter-Peter (D 2007, 2.16 min.) Jetzt ist das schon eine Woche her und es waren wirklich viele Filme — tut mir leid, an den kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Paul und sein erster Schultag (Nippe, Dannehl, D 2006, 4 min.) Pinguine sind niedlich, aber sie entschuldigen nicht jeden Film. Knetanimation über einen Pinguin, der erst wegen seiner Brille verlacht wird, diese dann versteckt und wegen Unfällen ausgelacht wird und am Ende doch noch geliebt wird. Naja.
Ernst im Herbst (Sieber, Schuh, Sauermann, Soi, D 2006, 6.40) Wunderbare schräge 3D-Animation mit souveränem Erzähler, die sich sehr locker über die Erzählebenen und die Bildgrenzen hinwegsetzt. Fein.
My Happy End (Vitanov/Schneider, D 2007, 5.20 min.) Rasante Zeichen-/Computeranimation von der HFF „Konrad Wolf“ im Stile der 20er Jahre.
Canary Beat (Haas, Lom, Luven, D 2006, 2.30 min.) Ein Kanarienvogel als Human Beat Box. Sehr hübsche, rhythmische Knetanimation.
Kretos Sala (Oksana Buraja, LT 2007, 26 min.)
Krasser Film. Zwei Zausel leben in einem riesigen alten Gehöft, wo sie ihr Leben vertrinken und von Kreta träumen. Gyntas und Kestas sind völlig aus der Gesellschaft herausgefallen und träumen von der Erlösung in Kretas Sagenwelt. Nicht nur das Thema ist kraß, auch die Umsetzung ist radikal. Die Leinwand ist weiß — im Schnee sind nur die beiden zu sehen, wie sie von Kreta singen. Auf einer Wiese tanzen und prügeln sie sich, im Haus sehen sie die Geister.
Und es passiert nichts mehr im Leben der beiden.
Kredens (Jacob Dammas, PL/DK 2007, 27 min.)
1968 hat die polnische Kommunistische Partei in einer antisemitischen Kampagne fast alle noch in Polen lebenden Juden aus dem Land vertrieben. Jacob Dammas Eltern gingen damals aus Breslau nach Kopenhagen. Doch sie ließen ihre Kredenz zurück. Kredenz, das ist der schöne Name für eine Küchenkommode. Sie war 150 kg schwer — und wie Dammas’ Onkel sagte, brauchte es vier starke Männer und eine Flasche Wodka, um sie zu transportieren. Sie hatte zuvor vertriebenen Deutschen gehört und Dammas’ Eltern mußten sie bei ihrer Flucht zurücklassen.
Und da soll sie auch bleiben, sagen die Mutter und die Tante. Die Türen sind zu und sie sollen es bleiben. Jacob Dammas aber fährt nach Breslau und spricht mit den Nachbarn auf der Suche nach der Kredenz. Und er stößt auf Vorurteile, Ablehnung, Ahnungslosigkeit, aber auch auf seltsam-freundliche Aufnahme mit Verbrüderung. Gleichzeitig zeigt er die Telefonate mit seiner Mutter, die sein Vorhaben immer noch nicht gutheißt. Der Film ist sein Abschlußfilm an der Andrzej Wajda Master School of Film Directing in Warschau. Vorher hat er an der Humboldt-Universität, in Toronto und Roskilde studiert. Sowas klingt immer ganz schön beeindruckend.
Ugolnaja Pyl (Marija Miro, RUS 2006, 20 min.)
Alexej Stachanow in der Sowjetunion, Adolf Hennecke in der DDR: Bergarbeiter waren Helden im Sozialismus. Marija Miro hat die Kumpel der Grube von Kopejsk in den Schacht begleitet. Die stillen Menschen erzählen vom Leben in Dunkelheit, vom Lungenkrebs durch den Staub und davon, wie sie jetzt mit wenig Lohn klarkommen müssen. Aber was will man machen? Die Zeiten der Helden sind vorbei, man muß sehen, wie man klarkommt. Bemerkenswert: Kopejsk ist Gefängnisstadt, in der Grube arbeiteten mehr Gefangene als Freie. Und: die Schule, in der an die Stelle alter Rituale etwas hilflose Formalitäten getreten sind.
Gesammelte Links von Donnerstag, 8. November 2007:
Leserbrief an die Taz zum Artikel im Taz-Journal “Endlich — Tod kein Tabu mehr” ueber die Eltern schwerbehinderter Kinder. Bemerkenswert.
Kinder, wie die Zeit vergeht (Thomas Heise, D 2007, 90 min.)
Eine Familie im Plattenbauviertel Leipzig-Grünau. Zu Beginn des Filmes sehen wir eine junge Mutter, die mit 15 schwanger wurde und über ihren ersten Sohn Tommi jetzt sagt: „Schade drum“, während beim Jüngeren noch was zu machen sei. Sie ist Busfahrerin. Später im Film hat sie dann den Mann kennengelernt, mit dem zusammen sie das lang gewünschte Mädchen bekommen hat.
Der Film begleitet vor allem Tommi, am Rande aber die ganze Familie. Und es geht wirklich um Begleitung — im Unterschied zum in letzter Zeit in Mode gekommenen Unterschichtenvoyeurismus, zeichnet dieser Film kein dramatisch schlimmes Bild. Ruhig und geradezu lakonisch schauen wir in Tommis Welt und die seiner Familie. Wir erleben Krisengespräche zwischen Toni und seinem sehr souveränen Lehrer. Wir lernen seinen rechtsradikalen Freund kennen und seinen Bruder, der gut in der Schule ist, aber nicht aufs Gymnasium will („meine Mutter will das auch nicht“).
Thomas Heise ist ein Meister der Einfühlung. Und so wirken seine Reportagen aus den ganz normalen Familien niemals denunzierend. Heise stellt sich deutlich auf die Seite derer, die er beschreibt und kann dadurch viel mehr Details und Zwischentöne beschreiben als es unbeteiligte Beobachter könnten.
Der Film ist schwarz-weiß gedreht, was ihm guttut. Und was die Landschaft in Koepps Holunderblüte, ist die Industrie- und Wohnarchitektur im ehemaligen Chemiedreieck bei Heise: sie wirkt wie ein stummer Kommentar des Filmemachers, der sich sonst ganz zurücknimmt.
Kontraste (Sieglinde Hamacher, DDR 1982, 5 min.) Eine großartige Animation des Andersen-Märchens „Der Wassertropfen“. Die Zeichnungen sind wunderbar anrührend abstrakt — und dazu gibt es großartige Neue Musik von Hans-Friedrich Ihme. Daß noch 1982 Filme wegen Formalismus verboten wurden (in diesem Fall wurde — ungewöhnlich, wie Frau Hamacher erzählte — auch das Negativ vernichtet), wußte ich nicht.
Es genügt nicht, 18 zu sein (Kurt Tetzlaff, DDR 1964, 23 min.) Oha! Das Dokumentarfilmpendant zu „Spur der Steine“: Eine junge Brigade in der DDR, hier Männer, die nach Öl bohren (ja, es gab ein bißchen Erdöl in der DDR). Der Sozialismus wird aufgebaut, aber kein Blatt vor den Mund genommen gegenüber Schlamperei und Opportunismus.
Formal sehr gelungen: Großartige Bilder vom Bohrturm (Tetzlaff erzählte, wie schwierig es war, die große Kamera dahinzukriegen — Handkameras gab es da in der DDR noch nicht), Originalton (auch neu damals) und Cinemascope — eher ungewöhnlich für Dokfilme.
Manfred Krug, der auch in „Spur der Steine“ die Hauptrolle spielt, spricht hier einen schönen Kommentar am Anfang und am Ende und wie „Spur der Steine“ wurde auch dieser Film auf dem 11. Plenum verboten.
Kurt Tetzlaff konnte hinterher wunderbar aus dem DDR-Kulturbetrieb berichten und ließ sich — unterstützt vom begeisterten Publikum — auch vom auf die Uhr schauenden Moderator nicht aus der Ruhe bringen („Eines muß ich Ihnen noch erzählen …“).
Träumt für morgen (Hugo Herrmann, DDR 1956, 20 min.) Kinder im Nachkriegsberlin, die zunächst einem Hinterhofpuppentheater zusehen, um hernach ihrem kranken Freund ein selbstgebasteltes solches vorzuspielen. Putzig, aber viel zu offensichtlich inszeniert und brav. („Wie der Stahl gehärtet wurde — das Buch hast Du Dir doch immer gewünscht!“).
Rock ’n Roll (Jörg Foth, DDR 1987, 18 min.) Ein junges Paar, das leidenschaftlich Rock ’n Roll tanzt und entsprechend nostalgisch drauf ist, wird in der Silvesternacht 86/87 bei gefühlt 20 Auftritten in Berlin gefilmt. Wirkt heute ganz nett retro, aber unspektakulär. Warum der Film verboten wurde, ist mit völlig unklar.
Martins Tagebuch (Heiner Carow, DDR 1956, 29 min.) Carows erster Film, in dem eine recht brave Geschichte langatmig erzählt wird: ein Junge verschweigt schlechte Noten zu hause, bis alles auffliegt. Der gute Lehrer setzt sich beim strengen Vater für den Jungen ein und so wird am Ende doch alles gut. Tetzlaff weist darauf hin, daß Filme, die dann am Ende ins Kino gekommen sind, die Kompromißfassung darstellen.
Wenn man sich nicht teilen kann, kommt man nicht auch nur annähernd dazu, alle der vorgestellten Filme des beeindruckenden Programms zu sehen. Man kommt nicht einmal dazu, in alle Reihen auch nur hineinzuschauen.
Lost Paradise Found war eine Sonderreihe, deren Filme alle irgendwie mit dem Paradies zu tun haben. Kann man machen, wenn man will. Der Himmel auf Erden wiederum ist im Rahmen von Lost Paradise Found eine Sammlung von Kurzfilmen, die das Paradies schon gefunden haben. Mehr Gemeinsamkeit gibt es leider nicht.
Mit Mutti ins Paradies (Bettina Schoeller, D 1996, 4 min.) Die Filmemacherin fährt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter nach Gran Canaria. Dort naschen sie verbotene Früchte. Eine einfache, witzige Idee, die trägt.
Proximity (Inger Lise Hansen, N 2006, 4 min.) Zeitrafferaufnahmen einer Küstenlandschaft, wobei als Besonderheit das Bild um π/2 gedreht ist, der Himmel also unten und das Land oben ist. Das ganze ist so artifiziell und langweilig, wie es sich anhört.
Himmelfilm (Jiska Rickels, D 2004) Menschen aus verschiedenen Ländern erzählen vom Himmel ihrer Kindheit. Dazu sieht man Landschaftsbilder. Nuja.
Isgnanije is raja (Ustinov, Nikolajeva, RUS 2004, 2 min.) Filmisches Dokument einer Kunstaktion: Ein nacktes Paar geht wie Adam und Eva zu McDonalds in St. Petersburg und nascht von den Tellern der Gäste bis sie rausfliegen. Das wirkt besser als es klingt, auch wenn der Film nur eine reine Dokumentation der Aktion ist.
Teekond Nirvaanasse (Mait Laas, EST 2000, 13 min.) Eine große Menge von Tricks aus der Geschichte des Animationsfilms wird angewendet, um — nun ja, eine nicht allzu spannende Drogenphantaise zu inszenieren.
Mast Qalandar (Till Passow, D 2003, 29 min.) Mast Qalandar ist ein heiliger der muslimischen Sufi, der im 13. Jahrhundert in Pakistan lebte und dort noch heute verehrt wird. Der Film begleitet ohne Kommentar Pilger auf ihrem Weg zum Heiligtum. Das ist sehr überzeugend: wir sehen Chaos, Buntheit, Drogenräusche, Euphorie, Sterben, blutige Selbstgeißelungen mit Messerbündeln und seltsamen Gesang — aber die Gesichter und Gesten der Menschen suggerieren dem europäischen Zuschauer, daß in dieser für ihn so fremden Welt alles in Frieden und bester Ordnung ist.
Ach, es ist so schön, ein Käfer zu sein (Dagie Brundert, D 1995, 3 min.) Ahem. Der Film wäre vielleicht als Scherz einer achten Klasse durchgegangen. Was die Veranstalter geritten haben mag, ihn aufzunehmen, weiß der Geier.
Holunderblüte (Volker Koepp, D 2007, 88 min.)
Ich weiß nicht, ob das ein Zeitphänomen ist, oder ob Leipzig schon immer so speziell war: angenehm, daß die gezeigten Dokumentarfilme ohne das große Pathos auskommen, das Fernsehproduktionen, aber auch den amerikanischen Überzeugungsfilm á la Michael Moore auszeichnet. Statt dessen strahlen viele Filme eine faszinierende Sicherheit aus, ein Vertrauen in die erzählten Geschichten, die ohne starke Überwältigungsmittel auskommen können.
Volker Koepp fährt seit vielen Jahren in das nördliche Ostpreußen. Zunächst nach Litauen und seit 1992, als Ausländer wieder hinfahren durften, ins Kaliningrader Gebiet. Von dort hat er schon mehrere hochgelobte Filme mitgebracht, die ich jetzt eigentlich alle sehen will.
Die Natur holt sich das Land wieder zurück: Sümpfe entstehen, wo einst Ackerbau betrieben wurde. Nach Auflösung der Kolchosen wird nichts mehr angebaut. Holunderblüte besucht Kinder auf dem Lande. Kinder, die eine traurige Geschichte und keine Zukunft haben: die Eltern trinken und haben ihre Kinder verlassen. Diese sind auf sich gestellt.
Holunderblüte hat jedoch wenig von den Elendsreportagen über Straßenkinder in Bukarest oder Moskau. Wir erleben eine Gruppe von Kindern, die mit einer unglaublichen Zärtlichkeit umeinander besorgt sind. Die ihr Leben allein auf die Reihe kriegen und dabei auch Träume haben. Es entsteht der Eindruck einer neuen Gemeinschaft, die leben will, auch wenn es hart ist — die Kinder sind die einzigen, die das übriggeblieben Vieh noch melken.
Erwachsene kommen kaum vor in Holunderblüte. Einmal sieht man zwei Trinkerinnen streiten. Die Schule und ihre trostlosen Rituale werden gezeigt. Dafür gibt es (neben den Kindern) eine weitere Hauptdarstellerin des Filmes: die ostpreußische Landschaft. Und das macht den Film erst so reizvoll: die Verbindung der Geschichten der Kinder mit der Verlorenheit der Dörfer zwischen den Sümpfen, den Wäldern, dem Haff und den ziehenden Störchen. Und auch die Musik paßt. Es ist ein stiller Film.
Wenn der Film jedoch bei aller Trauer den Trost vermittelt, daß diese Kinder wenigstens einander haben, erfährt man hinterher im Gespräch mit dem Regisseur, daß es dann doch meist hoffnungslos endet: der kleine Junge mit den finsteren Visionen ist später mit seiner Mutter von den anderen Erwachsenen aus dem Dorf gejagt worden; das Mädchen, das als Kind einen furchtbaren Unfall hatte und die nur auf ihre Volljährigkeit wartete, um ihre geliebten Brüder aus dem Heim holen zu können, ist verschwunden. Und von den zehn Geschwistern, die völlig allein sind, fehlen inzwischen auch einige.