In Zukunft mit Schere im Kopf
Freitag, 18. November 2005Das Stolpe-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat Auswirkungen auf die Arbeit der Presse. Wurde bisher bei Unterlassungsklagen den Journalisten die für sie günstigste Variante ausgelegt, ist es bei Stolpe anders. Bei solchen Äußerungen wird die Pressefreiheit gegen die Persönlichkeitsrechte des „Berichtsopfers“ abgewogen. In Zukunft sollen Journalisten nach Ansicht des BVerfG zwar nicht bestraft werden, wenn eine möglicherweise ehrverletzende (aber auch anders auslegbare) Äußerung geschieht, jedoch dürfen sie diese nicht noch einmal tätigen, wurden sie einmal darauf hingewiesen.
Der Tag dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wenn sie eins zu eins von der Rechtsprechung umgesetzt würde, ist ein wahrhaft schwarzer Tag für die Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit. Das Urteil hat eine viel größere Bedeutung als die vielbeachtete „Caroline-Entscheidung“ des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, die neue Maßstäbe für Bild- und Persönlichkeitsrechte von Prominenten zu setzen versprach. Tatsächlich wird jeder Redakteur — jetzt mit der von Karlsruhe verordneten Schere im Kopf — jede nicht gänzlich fern liegende Deutungsmöglichkeit seines Textes ausschließen müssen, um rachsüchtigen Betroffenen zu entgehen. Das Ergebnis wird sein: unlesbare Texte mit gedrechselten und verschrobenen, jede Irritation ausschließenden Sätzen, voller vorsichtiger Vermeidungen und furchtsamer Auslassungen. Sprechen wir mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: Die Drohung mit diesen völlig unkalkulierbaren Deutungsmöglichkeiten der Betroffenen wird über kurz oder lang „einschüchternde Wirkung (auf die) freie Rede, freie Information und freie Meinungsbildung (haben), (diese daher) empfindlich berühren und damit die Meinungsfreiheit in ihrer Substanz treffen“.
Persönlich kann ich übrigens nicht an eine Stasi-Verstrickung von Stolpe glauben, aber darüber hat das Verfassungsgericht auch nicht befunden.
wohlan, hier stärkt man alttestamentarisch wahrheit gegen die vorsintflutliche lust denunziation — mir soll es recht sein.
Naja — in der Kritik geht es ja nicht um das Urteil als solches, sondern um die Begründung und die daraus resultierenden Veränderungen im Presserecht. Eisenberg schreibt:
[…] Darüber ist vor einem halben Jahr in diversen Zeitungen von der Berliner Zeitung bis zur SZ prominent berichtet worden. Nur in der Jungen Welt und in der Taz läßt sich in den Archiven kein Wort finden. Zu einem Thema, das immerhin die Arbeit der Presse selbst fundamental betrifft. Gut, die Junge Welt wird von einem ehemaligen Stasi-Mann geleitet, da ist eine gewisse Einseitigkeit zu vermuten. Aber die Taz? Immerhin schreibt Johannes Eisenberg hier regelmäßig über die Auswirkungen von Gerichtsurteilen auf die Pressefreiheit. […]