Dok-Leipzig 2008 (xxix): Kein Abschied — nur fort

Sonnabend, 1. November 2008

Kein Abschied — nur fort (Lew Hohmann, Joachim Tschirner, Deutschland 1991, 100 min.) — Fremde Heimat

„Kein Abschied — nur fort“ beobachtet von 1989 bis 1991 zwei Familien und einen Familienvater, die im Oktober 1989, wenige Wochen vor der Maueröffnung über Ungarn in den Westen gegangen sind. Wenn man hier auf dem Festival schon eine Woche aktuelle Dokumentarfilme geschaut hat, ist man zunächst etwas enttäuscht, so einen Film mit der typischen Handschrift der DEFA der Achtziger Jahre zu sehen: schwarz/weiß, langsam, melancholisch. Der nächste Eindruck ist die Scham, die mich immer erfaßt, wenn ich die Klamotten sehe, in denen wir damals rumgelaufen sind. Peinlich.

Dann aber entwickelt sich der Film zu einem großartigen Drama über Menschen, die einfach losgehen, um ihr Glück zu versuchen. Komisch-tragisch die Marzahner Familie, deren Vater wie Hans im Glück sich fröhlich berlinernd durch den Westen wurschtelt, die aber offensichtlich wirtschaftlich kein Bein auf den Boden bekommt. Bei dem Vater, der seine Familie in der Lausitz zurückgelassen hat, sind die Motive recht unklar, lange Zeit ist auch nicht klar, ob die Familie zu ihm zieht, oder er zurückgeht, bis er nach einem Rückenschaden nicht mehr arbeiten kann und nach hause kommt. Die dritte Familie versucht es im Westen mit großer Anstrengung zu schaffen, um dann im Sommer 1990 nach Magdeburg zurückzukehren und sich dort selbständig zu machen.

Es ist berührend, diese Menschen aus einer Zeit zu sehen, als wir noch ganz anders auf die Kamera reagierten: einerseits recht scheu und — wie in der DDR üblich — bei persönlichen Themen in Offizialsprache und das „man“ flüchtend. Andererseits überhaupt nicht so abgebrüht, wie mittlerweile jeder ist, sondern durchaus bereit, über Schwächen, Verluste und Trauer zu sprechen und generell sehr offen gegenüber einem Leben im Ungewissen. Nun darf man nicht denken, wir hätten in der DDR keine Masken aufgehabt, ganz im Gegenteil. Aber es waren andere Masken als die heutigen und das macht diesen Film sehr faszinierend.

Dazu gehört auch, wie der Vater der dritten Familie von seinen Fluchtmotiven spricht: er hatte sich als Mitarbeiter an einer Tankstelle an der Transitstrecke als IM verpflichtet, wurde immer mehr unter Druck gesetzt, Erpressungsopfer zu liefern und über eigene Kollegen zu berichten, daß für ihn der Ausweg nur noch in der Flucht bestand. Auch sein Führungsoffizier, der nach der Wende (wie einige Stasileute) bei Minol an der Tankstelle anfängt, spricht über seine Arbeit, wenn auch mit großen Ausflüchten.

Hohmann und Tschirner wollten schon 1988 einen Film über die Ausreiseproblematik machen. Das Projekt wurde aber von oben verhindert, bis es in der Wendezeit im Oktober 1989 genehmigt wurde. Als sie dann in der Aufnahmestelle in Marktredwitz nach Protagonisten suchen, ist die Reaktion verständlicherweise sehr ablehnend, weil die Flüchtlinge eher schockiert sind, daß die DEFA schon vor ihnen da ist.

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